Was ist eigentlich ein Dokument?

Image: KI, canva
Wenn wir an ein Dokument denken, kommt uns sehr wahrscheinlich als erstes Schriftgut in den Sinn - d.h. ein Text auf Papier. Und tatsächlich ist ein Dokument auch im archivterminologischen Sinn traditionell ein solcher Text auf Papier, wobei jegliche Art von Medien und Formaten als Dokument gelten kann. (Pearce-Moses 126)* Ein Text ist zunächst eine kommunikative Äußerungseinheit. In A Glossary of Archival and Records Terminology heißt es: 

"Text encompasses all forms of writing, including printing, and typing. The words carved on a tombstone are an example of text, as are the representation and record of words in electronic format, such as a word processing document. Text includes numerals, punctuation, and symbols, but is distinguished from illustrations." (Pearce-Moses 381)

Texte sind also aus archivterminologischer Sicht klar von Illustrationen abgegrenzt und beziehen sich auf das geschriebene, respektive gedruckte, Wort. Der Text ist dem Dokument eingeschrieben, hat aber, bevor dieser in ein Archiv übergeht, ein Eigenleben. Er befindet sich in einem ständigen Prozess der Veränderung – im Status der Latenz. Ein Text wird revidiert, korrigiert oder gar vernichtet. Der Text ist gewissermaßen das Dokument im Status vor dem Archiv. In diesem Sinne können auch Skizzen, Entwürfe und jegliche Art von Aufzeichnungen, die noch nicht in ein Archiv übergegangen sind, als Texte gelten.**

Gelangt der Text in ein Archiv, wird dieser zum Dokument, zu einem Zeugnis. Das bedeutet jedoch nicht, dass dem Dokument ein größerer Wahrheitsgehalt zukommt als dem Text. Im foucaultschen Sinne müssen wir uns den Zwischenräumen des Dokuments widmen und das Dokument in seiner Ganzheit hinterfragen. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Text das Dokument vor dem Eingang ins Archiv ist, können wir sagen, dass der Text gewissermaßen fragiler ist, weil das Potential zur Veränderung größer ist. Dadurch ist der Text vergleichsweise dynamischer als das Dokument. Andererseits trägt auch das Dokument ein Potential zur Veränderung in sich. Ein Beispiel dafür sind Schwärzungen von Stasi-Unterlagen durch das Stasi-Unterlagen-Archiv. Dabei wird allerdings nicht das Dokument an sich verändert, sondern die Möglichkeit der Erfahrbarkeit von Aussagen und dadurch die Möglichkeit der Erfahrbarkeit des gesamten Dokuments. Während sich der Text eher willkürlichen, fast zufälligen Veränderungen ausgesetzt sieht, entstehen Veränderungen eines Dokuments oftmals aus bestimmten Motivationen heraus. Wie nun verhält es sich mit dem Manuskript? In Die Erfindung des Manuskripts schreibt Christian Benne:

"Was ein Manuskript ist oder generell als solches gilt, lässt sich aufgrund der phänomenalen Vielfalt seiner Erscheinungsformen nicht essentialistisch bestimmen. [...] Manuskripte sind in erster Linie Gegenstände, wenn auch spezifische, deshalb kann keine Rede von ihrem „Text“ sein, den sie bloß transportieren. Sie sind, was sie sind, jeweils nur aufgrund eines konkreten, einmaligen Soseins." (20)

Aus archivterminologischer Sicht ist ein Manuskript ein handgeschriebenes oder nicht publiziertes Dokument, ein Buchentwurf, ein Artikel oder ein anderes, für die Publikation eingereichtes Werk. (Vgl. Pearce-Moses 240) Sofern das Manuskript (oder Teile dessen) nicht publiziert sind, bleibt die Konsultation im Archiv die einzige Erfahrungsebene. Vor Eingang in ein Archiv sind Manuskripte noch vom Urheber veränderbar. Sobald das Manuskript als Teil eines Bestandes Eingang in ein Archiv erhält, wird das Manuskript selbst nicht mehr verändert. Das, was beispielsweise durch Publikationen nach außen getragen wird, ist in den meisten Fällen eine verkürzte Form des Manuskripts. Insofern bleibt die Erfahrbarkeit des "Originals" im Archiv nach wie vor wichtig. Dass diese sehr vereinfachten Darstellungen zu kurzgefasst sind, lässt sich allein angesichts der Geschichtlichkeit der Begriffe feststellen. Benne fasst mit Nietzsche gesprochen in Bezug auf den Begriff des Manuskripts zusammen: "Definierbar ist nur, mit Nietzsche, was keine Geschichte hat." (21) Dies gilt für die Begriffe Text, Dokument und Manuskript gleichermaßen. Insofern soll an dieser Stelle keine umfassende Analyse dieser Begriffe vorgenommen werden. Festgestellt werden konnte, dass unterschiedliche Erfahrungsebenen mit Bezug auf die Begrifflichkeiten zu bestehen scheinen. Dies scheint mir für die Besprechung der Erfahrungsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb von Archiven durchaus von Relevanz.

Text: © A. Bendel, Auszug aus Dissertation: Im Erfahrungsraum des Archivs. Köln, machiavelli, 2023, S. 71ff. (zu Beginn leicht abgewandelt, Zitierweise angepasst)

* Pearce-Moses führt aus, welche Kriterien für elektronische Dokumente gelten: "Like records, documents are traditionally understood to have content, context, and structure. However, the nature of those attributes may change in electronic documents. Electronic documents can present information in complex layers that are three-dimensional or have a nonlinear structure." (126).

** Pearce-Moses unterscheidet dabei zwischen Text (text), Notizen (note) und Anmerkungen (marginalia). (Vgl. 381).

Literatur:
Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Ge-schichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin: Suhrkamp, 2015.
Pearce-Moses, Richard: A Glossary of Archival and Records Terminology. Chicago: Society of American Archivists, 2005, archivists.org, [o.D.], URL: http://files.archivists.org/pubs/free/SAA-Glossary-2005.pdf, zuletzt abgerufen am 16.01.2025.

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