Vergangenheit und ihre Aufarbeitung

Image: Ýlona María Rybka, unsplash
Aus aktuellem Anlass der Correctiv-Recherchen zu einem mutmasslichen Geheimtreffen der AfD und anderer rechtsextremer Politiker:innen im November 2023 möchte ich in diesem Artikel die Frage diskutieren, welche Aufgabe Archiven und der Forschung mit Bezug auf eine „Aufarbeitung der Vergangenheit“ zukommt. Dies nicht allein vor dem ohnehin bekannten Hintergrund, dass Archive sich der Transparenz und Zugänglichkeit von Quellen verpflichten, sondern auch mit Bezug auf mögliche Stellungnahmen und Reaktionen von Archiven und der Forschung zu aktuellen Debatten. 

Ich bin mir durchaus bewusst, dass Stellungnahmen und Positionierungen nicht notwendigerweise Aufgabe von Archiven sind und auch nicht unbedingt von ihnen erwartet werden. Archive sind in erster Linie dafür da, Quellen zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass der Zugang zu diesen ermöglicht wird. In diesem Sinne sind Archive äusserst neutral. Dies gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Forschung. Archive wie auch die Forschung sind nicht der Ort für politische Vereinnahmungen oder vorschnelle Reaktionen. Dieser Gedanke ist wichtig und darf nicht leichtfertig behandelt werden. Trotzdem stelle ich mir als Wissenschaftlerin und Archivarin die Frage, wie „neutral“ Forschung und auch Archive sein dürfen, wenn ein vermeintliches Geheimtreffen rechter Politiker:innen und Neonazis stattfindet, welches im Ansatz eine Parallele zum von Nationalsozialisten entworfenen „Madagaskarplan“ und der „Wannseekonferenz“ aufzuweisen scheint – nicht allein aufgrund der, vielleicht zufällig, vielleicht beabsichtigen, Nähe zum Ort der „Wannseekonferenz“ vom 20. Januar 1942, auf der hochrangige Vertreter des Nazi-Regimes die „Endlösung der Judenfrage“ koordinierten. Heute, ziemlich genau 82 Jahre später, müssen wir uns endlich der Frage stellen, was mit „Aufarbeitung der Vergangenheit“ gemeint sein soll. Auf der anderen Seite ist von vorschnellen Reaktionen abzusehen - das ist vielleicht der grundsätzlichste und wichtigste Unterschied zwischen Forschung und Journalismus.

Der Begriff „Vergangenheitsaufarbeitung“ hat den schwierigen und umstrittenen Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“, der im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus sowie der DDR-Vergangenheit steht, bereits abgelöst. Mir scheint allerdings, dass auch dieser allzu häufig zu einer Floskel wird. Dieser Aspekt wird auch mit Bezug auf die anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas sichtbar. Auch ein „Nie wieder“ darf nicht zu einer Floskel verkümmern. An dieser Stelle trete ich als Wissenschaftlerin, Archivarin und nicht zuletzt als Privatperson entschieden für eine Positionierung ein – auch von Archiven und der Forschung. Archive sind Teil der Demokratie und des Rechtsstaats und leben von demokratischen und rechtsstaatlichen Werten – auch von deren Spannungsverhältnis. Positionierung heisst allerdings nicht sich allzu voreilig einer Meinung oder gar Empörungswelle anzuschliessen. Positionierung heisst von vornherein - ob mit oder ohne Geheimtreffen - eine Haltung einzunehmen und klar zu formulieren welche Grundwerte vertreten werden. Das gilt für Institutionen wie für Privatpersonen.

Erinnern – ein vielleicht neutralerer Begriff als „Aufarbeitung der Vergangenheit“ – kommt nach meinem Verständnis nicht ohne ein Handeln und nicht ohne ein Gegenüber aus. Ohne etwas, das erinnert werden und ohne jemanden, der darauf aufmerksam macht, dass erinnert werden soll. Allein aus archivperspektivischer Sicht ist es jedoch unmöglich, alles sichtbar zu machen oder alles erinnern zu können, da viele Quellen nicht oder unzureichend gesichert, (noch) nicht zugänglich, verschollen, zerstört, vernichtet oder überhaupt nicht existent sind. Dessen muss sich die Geschichtsschreibung (wieder ein Begriff, über den es sich lohnt nachzudenken) weiterhin bewusst werden. Mir scheint, dass wir uns immer wieder darüber klar werden müssen, dass die Vergangenheit keine abgeschlossene Einheit ist und die Zukunft nicht geschrieben steht. Dies kann nicht häufig genug betont werden. Erneut, wie in vielen meiner Beiträge, wage ich den Blick in die Literatur. Eine Passage aus Lessings „Nathan der Weise“ (1779), die der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Hans Mayer (1907-2001) in seinem Buch „Reisen nach Jerusalem“ (1997) analysiert, ist mit Bezug auf das Thema Vergangenheit und deren Aufarbeitung beachtenswert:*

Nachdem der Sultan Saladin Nathan zu sich eingeladen hatte, unterhalten sich Nathan und der Tempelherr auf der Suche nach der Vergangenheit. Der Tempelherr spricht zu Nathan: „Der Blick des Forschers fand /Nicht selten mehr, als er zu finden wünschte.“ Nach dem Abgang des Tempelherrn spricht Nathan zu sich: „‚Der Forscher fand nicht selten mehr, als er /Zu finden wünschte.‘ – Ist es doch, als ob /In meiner Seel‘ er lese! – Wahrlich ja; /Das könnt‘ auch mir begegnen.“ Der Tempelherr aber sagt noch etwas anderes: „Ich fürcht ihn, Nathan. Lasst die Zeit allmählig [sic]. /Und nicht die Neugier, unsere Kundschaft machen.“ (Lessing 58) Der Tempelherr fürchtet den Blick. Wessen Blick? Den Blick Nathans oder gar den seinigen? Beides ist möglich, denn beide gehen – ausgehend von dieser Schlüsselszene – auf ihre Weise den Spuren der Vergangenheit nach. Nathan, indem er herauszufinden sucht, ob seine Adoptivtochter Recha von selbigen Eltern stammt wie der Tempelherr. Der Tempelherr, da er durch die Intrige Dajas, der Erzieherin Rechas im Hause Nathans, von dem Umstand erfährt, dass Nathan nicht der leibliche Vater Rechas und sie gebürtige Christin und keine Jüdin ist. Was nun begegnet Nathan? Zum einen die Intrige Dajas, die den Tempelherrn, weil dieser Recha liebt, dazu bringt, sich dem Patriarchen von Jerusalem anzuvertrauen. Zum anderen führt der Tempelherr selbst Nathan dazu, tiefer in der Vergangenheit zu graben und eben nicht die „Zeit allmählich“ verstreichen zu lassen. Nathan wird damit selbst zum Forscher, dessen Blick nicht verschlossen bleibt. Dies erkennt er in eben jener Szene, als er die Ähnlichkeit des Tempelherrn mit dem, wie sich später herausstellt, Vater von Recha, bemerkt: „Wie solche tiefgeprägte Bilder doch /Zuzeiten in uns schlafen können, bis /Ein Wort, ein Laut sie weckt.“ (Lessing 58)

Aus historischer Perspektive bleibt der „Blick des Forschers“ nur allzu häufig verschlossen: Durch Verdrängung einer verstörenden Vergangenheit mithilfe der eigenen „Vergangenheitsbewältigung“ – durch Sperrung von Archiven, Zugangsbeschränkungen, aktive Verschleierung und Verbreitung von Desinformationen, die Übernahme von Nazis in Ämter auf bundesdeutscher Ebene und die Vertuschung derselben Tatsache.** Der Satz des Tempelherrn, vor dem der Christ sich fürchtet, dem aber der Jude sich öffnet, gilt für Archive wie auch für die Wissenschaft und die Politik. Nicht nur Archive können und müssen den Blick öffnen, sondern auch die Wissenschaft selbst, indem sie Dinge nicht nur zu erkennen, sondern diese auch zu beschreiben sucht und Position bezieht, wenn die Demokratie, die seriöse Wissenschaft und den Zugang zu Archiven ermöglicht, gefährdet ist. Aufarbeitung der Vergangenheit heisst eben auch für demokratische Werte einzustehen und diese zu verteidigen. Dies entschieden einzufordern ist kein Privileg, sondern eine Pflicht.

Text: © Anne Bendel, Januar 2024 (bearbeitet 9.2.2024)

Anmerkungen:
* Ab hier zitiert aus: Anne Bendel: Im Erfahrungsraum des Archivs. Hans Mayer: Ein Nachlass auf Widerruf. Köln: machiavelli edition, 2023. (leicht verändert) Die Zitierweise wurde zur besseren Lesbarkeit verändert, einige Fussnoten wurden weggelassen.

** Dies betrifft zum Beispiel die Fälle Hans Globke und Theodor Oberländer. In Bezug auf Globke und den ersten Chef des Bundesnachrichtendienstes Reinhard Gehlen ist ebenso der Fall Eichmann zu nennen, bei dessen Prozess in Jerusalem es nicht nur um ihn selbst, sondern mittelbar und unmittelbar um eben jene zuvor genannten Personen ging. Reinhard Gehlen war ehemaliger Geheimdienstchef unter Hitler. Die Position im Bundesnachrichtendienst war Hans Globke zu verdanken. In der Wochenzeitung „unsere zeit“ ist zu lesen: „Bei den Recherchen zu Globke machte der Fernsehautor Jürgen Bevers vor fünf Jahren [2011] einen sensationellen Fund: Die verschollen geglaubten 40 Seiten Aufzeichnungen Adolf Eichmanns in der Gefängniszelle. Sie belasten Globke, den Mitverfasser und Kommentator von Gesetzen gegen die Juden. Er war führend beteiligt an der Vorbereitung der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935, dem Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 und dem Personenstandsgesetz (3. November 1937). Das ‚J‘, das in Pässe von Juden eingeprägt wurde und das Tragen des Judensterns hat Globke mit konzipiert. Juden hatten als zweiten Vornamen Sara bzw. Israel ihrem Namen hinzuzufügen.“ (Sander). Die Bundesregierung hatte damals versucht zu verhindern Eichmann an die Bundesrepublik ausliefern zu lassen – aus den soeben ersichtlich gewordenen Gründen und mit Erfolg. Im Prozess gegen Eichmann wurde der Name Globke – „und nicht mehr als sein Name – […] nicht von der Staatsanwaltschaft, sondern von der Verteidigung in den Verhandlungen des Jerusalemer Gerichts erwähnt, und das wohl auch nur in der Hoffnung, die Adenauer-Regierung zu einem Auslieferungsverfahren für Eichmann zu ‚überreden‘.“ (Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München/Berlin: Piper, 13. Auflage, 2016, S. 90f.).

Literatur:
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München/Berlin: Piper, 13. Auflage, 2016.

Bendel, Anne: Im Erfahrungsraum des Archivs. Hans Mayer: Ein Nachlass auf Widerruf. Köln: machiavelli edition, 2023.

Lessing, Gotthold Ephraim: Nathan der Weise. Stuttgart: Reclam, 2000.

Kissler, Alexander: "Es gab keinen Masterplan Remigration", in: NZZ online, 03.02.2024. Online unter https://www.nzz.ch/international/es-gab-keinen-masterplan-remigration-zu-besuch-im-potsdamer-landhaus-adlon-ld.1775950, zuletzt abgerufen am 09.02.2024.

Redaktion Correctiv: Geheimplan gegen Deutschland, 10. Januar 2024. Online unter https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/, zuletzt abgerufen am 12.01.2024.

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