Über Lee Miller und die Frage nach dem Warum

Image: Anna Jiménez Calaf, unsplash
Vor ein paar Wochen habe ich mit einem Freund den Film "Lee – Die Fotografin" (2023) im Kino gesehen und wenn mich ein Film auch nach Wochen noch beschäftigt, sagt das etwas. Nicht allein die Geschichte, die hier erzählt wird – über die Fotojournalistin Lee Miller (1907-1977), die den London Blitz, die Invasion der Alliierten sowie den Holocaust und die Befreiung der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald dokumentierte, beeindruckt. Es sind die Fragen, die dieser Film stellt oder vielmehr jene, die man sich stellt, wenn man den Kinosaal verlässt. 

Da ist die Frage nach der Rolle von Frauen in Kriegszeiten, die auch heute erneut gestellt werden muss. Was ist ihr Einsatz und können sie selbstbestimmt Entscheidungen treffen – auch und gerade in Kriegszeiten? Der Film zeigt wie schwierig es war und vermutlich immer noch ist, als Frau eine aktive Rolle im Krieg einzunehmen. Er bespricht die Gewalt an Frauen und Mädchen während der Kriegsjahre, den Versuch oder die Suche nach sexueller Selbstbestimmung nach dem traumatischen Ereignis einer Vergewaltigung sowie die Frage nach dem was man seinen Nachkommen von all den Erfahrungen und Erlebnissen erzählt oder warum man schweigt. Ist es legitim Jahre, Jahrzehnte oder gar sein ganzes Leben lang über das zu schweigen, was ohnehin unsagbar scheint?

Wenn man es aus der Sicht derer betrachtet, die derartige Verbrechen wie den Holocaust gesehen und dokumentiert haben, kann man behaupten, dass es durchaus legitim oder vielmehr verständlich sei, nicht darüber zu sprechen – das Schweigen sicher auch als Verdrängungs- und Schutzmechanismus für sich selbst und für Andere. Mir scheint jedoch, dass eine Vergangenheitsbewältigung, die das Verdrängen und Vergessen – insbesondere in den frühen Nachkriegsjahren – in den Vordergrund gestellt hat, eine solche Haltung eher begünstigte. Adorno spricht genau darüber in dem sehr hörenswerten Beitrag "Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit" aus dem Jahr 1960. Euphemistische Ausdrücke wie "Kristallnacht" oder "Reichskristallnacht", welche für die Pogrome des 9. November 1938 stehen, bei denen Synagogen, jüdische Geschäfte, Versammlungsräume und jüdische Friedhöfe zerstört und niedergebrannt und infolgedessen tausende Menschen in Konzentrationslager deportiert wurden, belegen, dass gerade in den ersten Jahren nach dem Krieg, insbesondere in Deutschland, eine Haltung des Verdrängens vorherrschte.

Auch im Film gibt es diesbezüglich eine eindrückliche Szene: Als Lee feststellen muss, dass ihre Bilder nicht, wie angekündigt, in der britischen Vogue erscheinen, weil sie "verstörend" wirken könnten, bricht sie zusammen und zerschneidet ihre in der Akte sich befindenden Filme. Die Redakteurin Audrey Withers teilt ihr letztlich mit, dass die Bilder in der amerikanischen Vogue veröffentlicht wurden. Danach erzählt Lee ihr von dem sexuellen Missbrauch, den sie als Kind erlitten hatte. All das – die Erlebnisse, Beobachtungen, die Schrecken des Holocaust sowie die Geschehnisse in den Nachkriegsjahren – erzählt sie ihrem Sohn nicht. Dieser tritt im Film als Journalist auf und rekonstruiert in einem imaginären Gespräch mit seiner Mutter genau dies. Der Film ist letztlich ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, welches nie stattgefunden hat und so auch die Frage aufwirft, wie ein Umgang mit der eigenen Vergangenheit und der der Eltern, die derartige Verbrechen erlebt haben und die vielleicht nicht mehr leben, gelingen kann.

Müssen Eltern ihren Kindern alles erzählen? Oder ist es legitim zu Schweigen? Vielleicht sogar zum Schutz sich selbst und dem Kind gegenüber? Wie schon angedeutet, scheint mir, dass hierbei auch der politische und gesamtgesellschaftliche Prozess der Aufarbeitung mitgedacht werden muss. Was wir uns allerdings immer bewusst machen müssen, ist, dass wir nie alles wissen können und dies für die individuelle Aufarbeitung vielleicht auch gar nicht unbedingt notwendig ist. Allerdings: Je mehr Einblick wir in die Vergangenheit haben, desto besser können wir aktuelle Entwicklungen verstehen und begreifen und so auch aktiv gegensteuern – gegen erneut aufkommende faschistische Bewegungen. Dazu braucht es Zeitzeug:innen, die das Schweigen brechen, vor allem aber jene, die ihnen zuhören und in die Zukunft tragen, was ihnen als Mahnung dienen soll.

Ich möchte mit einer Erkenntnis schliessen, die ebenfalls aus dem Film resultiert und die mich zum Nachdenken anregt: Wir alle sind Zeitzeug:innen von morgen. Von uns wird man irgendwann wissen wollen, was heute war und warum. Gerade die Frage nach dem Warum ist entscheidend. Um genau diese beantworten zu können, müssen wir reden statt zu schweigen.

Text: © A. Bendel, Dezember 2024

archive.matter(s)

Archivierungsservice A. Bendel

© archive.matter(s) 2024