Das Archiv Vera Isler: Was bleibt von einem Nachlass?

Nach nunmehr vier Jahren konnte die Erschliessung des Nachlasses Vera Isler im Dezember 2023 abgeschlossen werden. Der Nachlass ist geordnet, inventarisiert und zum Teil bereits digitalisiert. Was bleibt sind Kisten voller Dokumente und Fotografien, verpackte Werke und ein Inventar, welches Aufschluss darüber gibt, was sich in eben jenen Kisten befindet, die zuvor – zum Teil geordnet, zum Teil ganz wild – als einzelne Blätter oder Stapel von Fotografien in Ordnern oder Fotoschachteln lagerten. Was bleibt von einem Nachlass, wenn dieser in Kisten verpackt und in Tabellen und Datenbanken eingepflegt, zu einem Archiv geworden ist?
Die für ein Archiv üblichen Begriffe wie Erschliessung, Ordnung und Inventar erscheinen nach einem langwierigen Prozess eher ungreifbar. Dahinter steht genau das – ein Prozess, der nicht nur die Ordnung beinhaltet, sondern insbesondere dasjenige, was nach getaner Arbeit nicht (mehr) sichtbar ist. Das Planen und Organisieren, das Einholen von Fördermitteln, damit Erschliessungsarbeiten überhaupt möglich werden und nicht zuletzt die Archivarbeit als prozesshaften Vorgang. Daneben zeigt sich immer wieder, dass mit dem Entstehen eines Archivs, einer geordneten Struktur und der Lagerung in Archivschachteln zwar die Zugänglichkeit erleichtert wird, aber immer auch ein Stück von dem verloren geht, was einen Nachlass ausmacht. Es ist eine Bändigung, eine Zähmung der zuvor oftmals wild durcheinanderliegenden Masse an Dokumenten. Ulrich Raulff, ehemaliger Leiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach, beschreibt dies sehr schön:
"Durch die an militärische Investitur erinnernde Einlagerung der Papiere in Mappen einheitlicher Größe und Farbe […] und Kästen von gleicher Größe (die geeignet sind, einen Maßstab zur Quantifizierung von Archivgut abzugeben) wird eine reine Quantität geschaffen. Die wilde und bedrohliche Singularität der Nachlässe wird in der Uniformität des Archivguts gebändigt." (Raulff 229)
Als Archivarin und Wissenschaftlerin muss ich dem vorangegangenen zugleich zustimmen wie auch widersprechen. Denn natürlich sind Erschliessungsarbeiten notwendig, um den Zugang zu einer Sammlung zu gewährleisten, diese zu bewahren und langfristig zu sichern. Trotzdem verliert ein Nachlass diesen eigenwilligen Charakter, diese eigenwillige Ordnung, irgendwie auch seinen Charme und seine Individualität, die mit dem Übergang in ein Archiv und damit in ein bestimmtes Ordnungssystem plötzlich nicht mehr vorhanden ist. Der Nachlass Vera Isler ist da keine Ausnahme. Diesen Prozess von Anfang bis Ende zu begleiten, hat etwas Heilsames. Insbesondere auch deswegen, weil mit dem Aufbau des Archivs Vera Isler, der Nachlass einer jüdischen Künstlerin, die 1936 mit ihren beiden Schwestern in einem der letzten Kindertransporte von Berlin in die Schweiz geflüchtet ist, erfahrbar wird. Eine Ordnung herzustellen, die nicht allein die Künstlerin versteht, sondern die aufgrund von Normen und einem standardisierten System, einer breiteren Masse zugänglich wird, ist dabei das eine. Das andere ist, einen Abschluss zu finden und zu gewährleisten – mit einem vergangenen Leben, dass zukünftig sichtbar wird.

Dies ist Aufgabe von Archivar:innen: Dokumente aus einem vergangenen Leben so aufzubereiten, dass diese nutzbar und damit erfahrbar werden und dieses Leben zukünftig erinnert werden kann. Insofern ist ein Archiv nicht nur Hüter der Vergangenheit, sondern vor allem Wegbereiter für die Zukunft. Nur wenn Dokumente erfahrbar sind, können wir aus vergangenen Erfahrungen, Perspektiven und Anschauungen lernen. Frei nach Kierkegaard: Leben wird vorwärts gelebt und oft nur rückwärts verstanden. Darum gibt es Archive, darum ordnen wir – auch, wenn wir uns klarmachen müssen, dass ein Archiv ein ebensolcher Ausschnitt aus der Vergangenheit ist wie Dokumente und die Erinnerung selbst. Es ist jedoch ein wichtiger.
Text: © Anne Bendel, im Dezember 2023
Literatur:
Raulff, Ulrich: Sie nehmen gern von den Lebendigen, in: Ebeling, Knut/Stephan Günzel (Hg): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009.
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