„Zeitgeist“

Im vergangenen Philosophiekreis ging es um das Thema „Zeitgeist“. Was ist Zeitgeist? Ist dieser politisch oder bewegt er sich eher auf gesellschaftlich-soziologischer Ebene? Oder beides? Ist der Zeitgeist für alle da?
Eine Definition, respektive Erklärung, von Zeitgeist stammt von der Kulturwissenschaftlerin und Zeitgeist-Forscherin Kirstine Fratz. Sie definiert Zeitgeist als „ein temporäres Versprechen für ein gelingendes Leben. Er gibt bestimmte Ideale vor, wie wir glauben, leben, lieben, arbeiten und aussehen müssen; wie wir unsere Kinder erziehen; uns anderen gegenüber verhalten; oder was wir konsumieren … Wir tun all das, weil wir tief im Inneren das Versprechen spüren, dass dadurch unser Leben gut wird.“
Der Zeitgeist ist also stark von Idealen geprägt. Er entsteht aus der
Sehnsucht nach Veränderung. Dabei kann der Zeitgeist einen konstruktiven oder auch destruktiven Charakter haben – letzteres dann, wenn man das Gefühl hat den Ansprüchen der Zeit nicht (mehr) gerecht zu werden. Dies kann Ängste und Unsicherheiten auslösen. Wenn der Zeitgeist zum Trend wird, sich verselbständigt und von Unternehmen, Politik, Werbung und anderen Interessengruppen instrumentalisiert wird, kann dies das Potenzial des Zeitgeists einschränken; ein dynamischer und reflektierter Umgang mit dem Zeitgeist hingegen wirkt konstruktiv. (Vgl. Fratz)
Auf die Frage was der Zeitgeist denn eigentlich sei, wurde die Diskussion sehr schnell politisch. Insbesondere die Globalisierung sowie zunehmende Flüchtlingsströme führen zu Pluralität und mehr Komplexität – der europa- und weltweit zu Beobachtende Rechtsruck sowie autokratische Entwicklungen scheinen u.a. eine Reaktion auf eben diese Komplexität zu sein. Ein wichtiger Aspekt, der in diesem Zusammenhang diskutiert wurde, ist die Bedeutung von Kommunikation und Dialog. War Kommunikation schon immer grundlegend für den Zeitgeist oder spielt diese heute eine noch entscheidendere Rolle? Sicher ist auch die Kommunikation komplexer und herausfordernder geworden. Dabei ist eine Beobachtung zentral: Eine offene und wertschätzende Kommunikation, vor allem aber die Fähigkeit dem Gegenüber zuzuhören scheint dem Drang sich zu allem äussern zu müssen und eine Meinung zu haben untergeordnet. Dahinter steht die Frage: Gibt es einen Mittelweg oder müssen wir uns heute mehr denn je einem Lager zuordnen? Theresa, eine der beiden Hauptfiguren im Roman „Zwischen Welten“ (2023) von Juli Zeh und Simon Urban beschreibt dies so:
„Vielleicht kann man in diesen Zeiten nur für oder gegen das System sein. Die Plätze zwischen den Stühlen werden gerade mit Macht eliminiert. Grauzonen werden trocken gelegt, Ambivalenzen ausradiert. Möglicherweise können wir uns alle demnächst die Zweifel nicht mehr leisten.“ (227)
In ihrem Roman „Zwischen Welten“ geht es genau um das: die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten des Aushaltens von Zwischenräumen. Theresa und Stefan, die zwanzig Jahre zuvor zusammen Germanistik studiert haben, begegnen sich zufällig wieder und bemerken, dass sie kaum mehr Gemeinsamkeiten zu haben scheinen. Ihr Wiedersehen endet in einem Desaster. Stefan ist Kulturchef einer renommierten Hamburger Zeitung und vertritt vehement political correctness, während Theresa den Hof ihres Vaters in Brandenburg übernommen hat, nun ums Überleben ihres Bio-Bauernhofs kämpft und sich mit Fortschreiten der Handlung immer weiter radikalisiert. Obwohl sich ihre Leben so sehr unterscheiden, beschliessen sie sich per WhatsApp und E-Mail aus ihren Welten zu erzählen. Allein die Tatsache, dass sie sich trotz ständigem Schlagabtausch, Beleidigungen und Kränkungen weiterhin schreiben, scheint mir eine Stärke beider Charaktere
zu sein. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den eigenen Befindlichkeiten scheint aber dennoch bei beiden nicht oder nur beschränkt stattzufinden. Wenngleich die persönliche Beziehung sowie teilweise (beidseitig) eine gewisse Sehnsucht nach Vergangenem hervorscheint, scheint mir gerade die doch eher an der Oberfläche verharrende Kommunikation sinnbildlich für die gegenwärtige Kommunikationsweise. Denn: wirkliches Zuhören findet nicht statt. Beide halten sich für besser als der andere und die jeweils eigene Meinung für die richtige. Eine Passage aus „Über Menschen“ (2022), ebenfalls von Juli Zeh, beschreibt diesen Zustand treffend:
„‘Und ob ich was Besseres bin! Hundertmal besser als du!’ […] Die Worte klingen richtig, und es hat sich herrlich angefühlt, sie herauszuschreien. ‘Und ob ich besser bin.’ Aber auf den zweiten Blick ist dieser Satz die Mutter aller Probleme. Am Ortsrand von Bracken und im globalen Maßstab. Ein Langzeitgift, das die ganze Menschheit von innen zerfrisst.“ (367)
Was braucht es, damit dieser Zustand aufweicht und wir uns (wieder) als Menschen begegnen können? Mir scheint, dass wir im Gespräch einige Ideen und Lösungsansätze zusammentragen konnten. Die wichtigsten Punkte, die genannt wurden, sind: Raum für Begegnungen schaffen, aktives Zuhören sowie das Zulassen von „Denkpausen“ und Stille. Daneben wurden die Fähigkeit zur Selbstreflektion und der Mut zum Nichtwissen genannt. Gerade weil die Welt komplexer wird und die zunehmende Pluralisierung offenbar dazu führt, dass sich Zeitgeister aus verschiedenen Zeiten und Welten treffen, werden gesunde, wertschätzende und vor allem friedvolle Kommunikationsweisen aus meiner Sicht immer wichtiger.
In diesem Sinne: Danke euch für diesen wunderbaren Abschluss des Philokreises vor der Sommerpause. Ich wünsche euch einen tollen Sommer mit wertschätzenden Begegnungen und vielen inspirierenden Momenten.
Der nächste Termin ist der 15. September zum Thema „Schönheit und Menschenbilder“.
Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 16. Juni 2024
Literatur:
Fratz, Kirstine: Der Zeitgeist ist kein Feind. In: Willow Creek-Magazin 02/2020. Online unter https://www.willowcreek.de/der-zeitgeist-ist-kein-feind/, zuletzt abgerufen am 19.06.2024.
Zeh, Juli: Über Menschen. München: Penguin, 11. Auflage, 2022.
Zeh, Juli/Simon Urban: Zwischen Welten. München: Luchterhand, 2. Auflage, 2023.
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