„Utopien und (Großstadt-)Räume“

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Der vergangene Philosophiekreis war dem Thema Utopien und (Großstadt-)Räume gewidmet. Da viele verschiedene Aspekte angesprochen wurden – zum Beispiel das Verhältnis von Großstadt und Kleinstadt, architektonische Besonderheiten sowie eigene Erfahrungen in und mit der Großstadt –werde ich in diesem kurzen Rückblick versuchen einen Aspekt besonders herauszustellen: Das Verhältnis zwischen der Großstadt als wirklichen und unwirklichen Raum im Zusammenhang mit der für die Großstadt typischen Reizüberflutung. Am Ende des Textes gibt es wieder eine Literaturliste der zitierten Werke. 

Eine These, die für die Diskussion zentral war, ist folgende: die Großstadt als ein Raum, der wirklich und unwirklich zugleich ist.

Zunächst wurden hierzu die Begriffe Utopie und Heterotopie eingeführt und diskutiert. Eine Utopie, so konnten wir feststellen, scheint dabei im Gegensatz zu einer Vision etwas zu sein, das zunächst nicht realisierbar scheint. Es ist etwas, bei dem wir uns die Frage, ob dieses oder jenes Vorhaben realisierbar ist, gar nicht erst zu stellen scheinen. Auf den Raum bezogen hieße das, dass dieser gar nicht existent ist – vorstellbar, aber nicht eigentlich in der Welt. Anders ist dies bei dem von Michel Foucault geprägten Begriff der Heterotopie. Heterotopien existieren, sind aber nicht notwendigerweise für jeden erfahrbar. Heterotopien können zum Beispiel Frauen im Kindbett, Heranwachsende oder Greise sein. Auch das Hotelzimmer auf einer Reise kann als Heterotopie gelten oder Kinder, die im Ehebett der Eltern spielen und sich vorstellen in einer Höhle zu sein. (Vgl. Foucault 322f.) All das sind Heterotopien – existente Orte oder Räume, zugleich aber solche, die für andere unzugänglich sein können. Foucault spricht in seinem Text Von anderen Räumen von einer Mischform zwischen Utopie und Heterotopie – dem Spiegel:

Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfläche des Spiegels liegt. Ich bin, wo ich nicht bin, gleichsam ein Schatten, der mich erst sichtbar für mich selbst macht und der es mir erlaubt, mich dort zu betrachten, wo ich gar nicht bin: die Utopie des Spiegels. Aber zugleich handelt es sich um eine Heterotopie, insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde. Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenen Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann. (321)

Bei der Figur des Spiegels handelt es sich also um einen wirklichen und unwirklichen Raum zugleich. Wenn wir nun behaupten, dass die Großstadt ein ebensolcher Raum ist – was genau heißt das?

In einer Großstadt haben wir diverse Orte, die wir als existent wahrnehmen, die aber für uns, respektive für bestimmte Personengruppen, unzugänglich sind. Das können Verwaltungsgebäude, Gerichte, Gefängnisse, Museen, Archive, bestimmte Geschäfte oder Ähnliches sein. Diese Orte sind da, sie existieren, sind aber für den Einzelnen nicht notwendigerweise erfahrbar. Auf der anderen Seite kann die Großstadt als Erfahrungsraum für einzelne Personen unzugänglich sein. Nehmen wir beispielsweise einen Gefängnisinsassen, der seine Strafe abgesessen hat und plötzlich wieder „frei“ kommt und der Großstadt ausgesetzt ist. Dieser wird sich womöglich gerade in der Großstadt mit der zurückgewonnenen Freiheit überfordert fühlen. Genau so beginnt einer der wichtigsten Großstadtromane des 20. Jahrhunderts – Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“:

Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. Gestern hatte er noch hinten auf den Äckern Kartoffeln geharkt mit den andern, in Sträflingskleidung, jetzt ging er im gelben Sommermantel, sie harkten hinten, er war frei. Er ließ Elektrische auf Elektrische vorbeifahren, drückte den Rücken an die rote Mauer und ging nicht. Der Aufseher am Tor spazierte einige Male an ihm vorbei, zeigte ihm seine Bahn, er ging nicht. Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen eisernen Torflügel, die er seit einem Jahr mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte (Widerwillen, warum Widerwillen), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. Drin saßen die andern, tischlerten, lackierten, sortierten, klebten, hatten noch zwei Jahre, fünf Jahre. Er stand an der Haltestelle. Die Strafe beginnt. (15)

Die vermeintliche Freiheit, die auf Franz Biberkopf nach abgesessener Strafe wartet, stellt sich als eine Art „Gnadenfrist“ heraus. (47) Er ist nicht imstande das Großstadtleben zu bewältigen und wird im Verlauf des Romans wieder und wieder auf die Probe gestellt. So wird die Großstadt für ihn zu einem Raum, der ihm zwar alle Möglichkeiten zu bieten scheint, die er aber nicht imstande ist für sich zu nutzen. Auch im Roman „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgard Keun, aus dem zwar nicht zitiert wurde, der aber an dieser Stelle ebenso interessant erscheint, wird diese Überforderung verbunden mit einer gleichzeitigen Bewunderung für den Glanz der Großstadt thematisiert:

Ich bin in Berlin. Seit ein paar Tagen. Mit einer Nachtfahrt und noch neunzig Mark übrig. Damit muß ich leben, bis sich mir wieder Geldquellen bieten. Ich habe Maßloses erlebt. Berlin senkte sich auf mich wie eine Steppdecke mit feurigen Blumen. Der Westen ist vornehm mit hochprozentigem Licht – wie fabelhafte Steine ganz teuer und mit so gestempelter Einfassung. Wir haben hier ganz übermäßige Lichtreklame. Um mich war ein Gefunkel. […] Aufregend. […] Es gibt eine Untergrundbahn, die ist wie ein beleuchteter Sarg auf Schienen – unter der Erde und muffig, und man wird gequetscht. Damit fahre ich. Es ist interessant und geht schnell. […] beim Alexanderplatz, da sind nur Arbeitslose ohne Hemd und furchtbar viele. (67)

In der Großstadt kumulieren sich unzählige verschiedene Eindrücke, mit denen wir umgehen müssen. Georg Simmel beschreibt dies als „Steigerung des Nervenlebens“, welche aus dem Überfluss an Eindrücken entsteht. Um mit dieser „Steigerung des Nervenlebens“ dauerhaft umgehen zu können, brauchen wir „Überlebensstrategien“. Simmel spricht von Blasiertheit der Großstädter, von Abstumpfung, Reserviertheit und Antipathie gegenüber dem Anderen (z.B. Obdachlosen).

Neben den unzähligen Eindrücken, die in einer Großstadt auf uns wirken, kann es vorkommen, dass wir uns in dem gigantischen Raum einer Großstadt verloren fühlen. Paul Auster beschreibt diesen Aspekt in seiner New York-Trilogie eindrücklich:

New York war ein unerschöpflicher Raum, ein Labyrinth von endlosen Schritten, und so weit er auch ging, so gut er seine Viertel und Straßen auch kennenlernte, es hinterließ in ihm immer das Gefühl, verloren zu sein. Verloren nicht nur in der Stadt, sondern auch in sich selbst. Jedesmal, wenn er ging, hatte er ein Gefühl, als ließe er sich selbst zurück, und indem er sich der Bewegung der Straßen überließ, sich auf ein sehendes Auge reduzierte, war er imstande, der Verpflichtung zu denken zu entgehen, und das brachte ihm mehr als irgend etwas sonst ein Maß von Frieden, eine heilsame Leere in seinem Inneren. Die Welt war außerhalb seiner selbst, um ihn herum, vor ihm, und die Schnelligkeit, mit der er sie ständig wechselte, machte es ihm unmöglich, bei irgendeiner Einzelheit lange zu verweilen. Die Bewegung war entscheidend, die Tätigkeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich einfach von seinem eigenen Körper treiben zu lassen. Durch das ziellose Wandern wurden alle Orte gleich, und es war nicht mehr wichtig, wo er sich befand. Auf seinen besten Gängen vermochte er zu fühlen, daß er nirgends war, Und das war letzten Endes alles, was er je verlangte: nirgends zu sein. New York war das Nirgendwo, das er um sich her aufgebaut hatte, und es war ihm bewußt, daß er nicht die Absicht hatte, es jemals wieder zu verlassen. (10)

Fast scheint es als könne sich Quinn – die Hauptfigur – der Großstadt kaum entziehen, obwohl oder gerade weil diese kaum fassbar scheint. Um aber der Großstadt mit ihren Reizüberflutungen zu begegnen, bedarf es scheinbar Strategien, welche wir uns – bewusst oder unbewusst – erarbeiten. Weil Quinn den Blick „auf ein sehendes Auge reduzierte“, kann er gewisse Aspekte der Großstadt – dieses unerschöpflichen Raums – ausblenden. Genau dies ist mit der oben beschriebenen Blasiertheit gemeint. Weil wir gewisse „Überlebensstrategien“ entwickelt haben, um in der Großstadt zurecht zu kommen, sind wir auch nicht imstande den gesamten Raum der Stadt zu erfassen. Dies zumindest gilt für die Perspektive des Fußgängers. Dieser hat immer nur einen begrenzten Blick auf die Stadt. Hinzu kommt, dass wir aufgrund von Überwachungssystemen nicht nur selbst beobachten, sondern auch ständig beobachtet werden. Auch dies hat einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung – je nachdem, ob wir uns dieser Bewachung bewusst sind oder nicht. Auch ein ständiges bewusstes Wissen über diesen Zustand der Bewachung führt sehr wahrscheinlich zu einer nervlichen Überforderung, sodass wir gelernt haben, diese „auszublenden“. Diese „Überwachung“, respektive Beobachtung, in einer Großstadt scheint allerdings anonymer zu sein als in einer Kleinstadt oder auf dem Land. Dies ist allerdings ein Thema für einen nächsten Philosophiekreis und soll hier lediglich als Anmerkung dienen.

Wenn wir uns nun auf einem Hochhaus befinden und von oben auf die Stadt herunterschauen, kommt etwas Neues hinzu. Der voyeuristische Blick, der das Geschehen von oben beobachtet, ohne wirklich beobachtet zu werden. (Vgl. de Certeau) Dieses Erlebnis hat etwas Erhabenes, fast Utopisches.

Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Großstadt nicht ein abgeschlossener Ort oder Raum zu sein scheint, sondern viele Orte oder Räume. Die Perspektive oder Wahrnehmung dieser Orte oder Räume kann sich ändern, je nachdem, ob man als Fußgänger (Flaneur oder Stadtwanderer) oder Voyeur unterwegs ist. Auch scheint sich dies zu ändern je nachdem welche Erwartungshaltung man an die Großstadt hat – möchte man in ihr leben oder ist man lediglich zu Besuch? Hat man ein Ziel oder nicht? Und letztlich auch die Frage nach den finanziellen Mitteln, die in einer Großstadt durch das gesteigerte Angebot und die vielfältigen Möglichkeiten unweigerlich eine größere Rolle spielt. Insofern gibt es in der Großstadt unzählige Orte, die für bestimmte Personen möglicherweise unzugänglich bleiben – so gesehen könnte man sagen besteht die Großstadt aus vielen „Spiegelräumen“ – einer Mischform aus Utopie und Heterotopie also. Die Großstadt ist wirklich und unwirklich zugleich – sie ist utopisch und gleichzeitig in der Welt. Vielleicht ist gerade dies der besondere Reiz an einer Großstadt, den wir in dieser Runde des Philosophiekreises versucht haben zu erkunden.

Das nächste Mal, am 17. März, wird es um die Frage „Freiheit – eine kommunistische oder kapitalistische Idee?“ gehen. Sehr wahrscheinlich wird uns auch hier der Begriff der Utopie erneut begegnen.

Interessiert? Dann melde dich gleich hier mit Betreff: Philosophiekreis an. (Platzzahl beschränkt)

Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 18. Februar 2024

Literatur:
Auster, Paul: Die New York-Trilogie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 29. Auflage, 2010. (Erstveröffentlichung 1985)
De Certeau, Michel: Praktiken im Raum (1980), in: Dünne, Jörg/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 8. Auflage, 2015, S. 343-352. (Erstveröffentlichung 2006)
Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. München: dtv, 47. Auflage, 2008. (Erstveröffentlichung 1929)
Foucault, Michel: Von anderen Räumen (1967), in: Dünne, Jörg/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 8. Auflage, 2015, S. 317-328. (Erstveröffentlichung 2006)
Keun, Irmgard: Das kunstseidene Mädchen. Berlin: List, 2. Auflage, 2010. (Erstveröffentlichung 1932)
Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 2006. (Erstveröffentlichung 1903)

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