„Über Scham“

Der vergangene Philosophiekreis, am 21. April, war ganz dem Thema der Scham gewidmet. Was ist Scham? Leben wir in einer Schamkultur? Ist Scham etwas Universelles, biologisch in uns angelegt oder vielmehr abhängig von der Kultur, in der wir leben sowie von den Prägungen, die wir in unserem Leben erfahren? Ist Scham gut?
Wie immer können diese Fragen nur als Einstieg dienen und sollen keineswegs final beantwortet werden. Auch dieser Rückblick ist weniger als Zusammenfassung zu verstehen, als vielmehr als Denkanstoss und Möglichkeit zum Abgleich mit der eigenen Erfahrungswelt.
Um zu erfahren, welche Themen schambehaftet sind oder sein können, haben alle zu Beginn auf einen zuvor ausgewählten farbigen Zettel ein Thema aufgeschrieben, welches die jeweilige Person mit Scham verbindet. Aus sechs Farben wählten nahezu alle die Farbe Rot, was vermutlich der körperlichen Reaktion – dem „rot-werden“ beim Schamempfinden – entspricht oder auch der Körperwärme, die beim Empfinden von Scham entstehen kann. Die Themen reichten von Geld über Essen, Unwissenheit beziehungsweise die Scham, etwas nicht zu können (insbesondere in der Schulzeit), Intimitäten in der Öffentlichkeit, Sex/Sexualität, unmenschliches Verhalten bis hin zu einem Scham- [oder Schuldgefühl?], jemandem durch das eigene Handeln ernsthaft Schaden zugefügt zu haben.
An dieser Stelle ist bereits eine Vermischung von Scham und Schuld erkennbar, denn letzteres würde vermutlich eher in die Kategorie Schuld fallen, wobei eine klare Trennung schwierig erscheint. Scham allerdings bezieht sich offenbar auf die Person als Ganzes, während bei der Schuld die Handlung im Vordergrund zu stehen scheint. Auch bricht Scham „immer völlig unverzögert aus, mit sofortiger, voller Gewalt. Das Schuldgefühl dagegen stellt sich oft erst langsam im Nachhinein ein, als zunehmend anschwellende innerpsychische Spannung“ (93), wie Robert Pfaller in „Zwei Enthüllungen über die Scham“ schreibt.
Was also ist Scham nun?
Scham ist laut DUDEN-Definition zuallererst das „Gefühl des Blossgestelltseins oder [die] Furcht, blossgestellt zu werden“ und zweitens „(verhüllend): Geschlechtsteil (beim Menschen)“. Scham ist also ganz allgemein die Furcht vor Blösse – auch körperlicher. Die Fähigkeit, diese empfinden zu können, gilt als angeboren und kann insbesondere durch das Erröten oder Schweissausbrüche auch für andere ersichtlich werden. (Vgl. Wikipedia)
In verschiedenen Theorien zur Scham aus der Kulturanthropologie, Psychoanalyse oder Philosophie gibt es zwei Annahmen über die Scham, die Robert Pfaller in der oben zitierten Publikation zu widerlegen versucht: Erstens, dass Scham etwas ist, dass „aussengeleitet“ sei, also etwas, dass von Aussen komme und zweitens, dass Scham etwas ist, das auf einem Zuwenig, einem Mangel beruhe. In der Diskussion haben wir uns vor allem mit der ersten Annahme beschäftigt, für die Pfaller zwei Gegenargumente entwickelt. Er sagt zum Einen, dass es für die Entstehung der Scham nicht notwendigerweise die Kenntnis und Verurteilung durch andere braucht:
Menschen empfinden auch dann Scham, wenn andere nicht von der betreffenden Sache wissen oder sie nicht verurteilen (beziehungsweise wenn sie sich vorstellen, dass andere nicht davon wissen oder sie nicht verurteilen). […] die Scham beruht nicht notwendigerweise auf einer äusseren Verurteilung. (70)
Andersrum führt aber laut Pfaller auch die Kenntnis und Verurteilung durch andere nicht zwingend zur Scham. Dies liegt vor allem am „Diskretionsgebot der Scham“:
Die Verpflichtungen der Scham bestehen nicht nur im Verbot, sich Blössen zu geben und diese zu zeigen. Sie beinhalten auch die Verpflichtung, über Blössen anderer hinwegzuschauen (bzw. hinwegzuhören, -riechen, -fühlen etc.), sofern sie sich doch einmal zeigen. Neben der strengen, verbietenden Seite haben die Schamgesetze also auch eine gnädige, solidarische Seite. Man darf dem anderen seinen Makel nicht zum Vorwurf machen, ja nicht einmal zeigen, dass man ihn überhaupt bemerkt hat, sondern muss darüber hinwegsehen. (74)
Scham entsteht also erst dann, wenn die Illusion, dass ja gar nichts Schlimmes passiert sei, nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wenn also die betreffende Sache öffentlich gemacht wird. Insofern hat die Aufrechterhaltung der Illusion etwas Schützendes. Es schützt denjenigen, der sich ansonsten vielleicht „in Grund und Boden“ schämen würde, im Schlimmsten Fall nicht mehr aus dem Haus gehen möchte oder gar Suizid begeht, weil er sich für die betreffende Sache zu sehr schämt. Insofern schützt die Aufrechterhaltung der Illusion vor der destruktiven Seite der Scham. Scham kann aber auch positiv bewertet werden. Die Fähigkeit Scham zu empfinden kann zur Selbstreflektion im Umgang mit sich selbst und anderen führen. Dies können wir als konstruktiven Umgang mit der eigenen Scham verstehen.
Scham ist allgegenwärtig. „Immer mehr Menschen bekommen es derzeit mit der Scham zu tun“, schreibt Pfaller einleitend. Die heutige Scham scheint allerdings eher mit einem gewissen Stolz einherzugehen, beispielsweise beim Thema Flugscham. „Man ist stolz, dass man so viel Schamgefühl, so viel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche besitzt; und darum trägt man seine Scham nun auch ähnlich selbstbewusst zur Schau wie früher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche.“ (12) Interessant erscheint mir, dass Stolz eigentlich ein Gegenpol zur Scham ist. In Situationen, in denen wir stolz sind, wird unser Selbstwertgefühl aufgewertet, während Scham (vielleicht nicht in allen Ausprägungen) unseren Selbstwert eher mindert. (Vgl. Wikipedia)
Weil Scham aber im Übermass produziert zu werden scheint, und es gerade nicht mehr darauf ankommt, die Illusion aufrechtzuerhalten, leben wir laut Pfaller auch nicht in einer echten, sondern in einer „Pseudoschamkultur“: „in Schamkulturen unternehmen Menschen sehr viel, damit niemand sich zu schämen braucht. In unserer Kultur dagegen scheint umgekehrt sehr viel unternommen zu werden, damit das Gegenteil der Fall ist“ (133)
Während es ohne Frage richtig ist, auf Missstände aufmerksam zu machen, das eigene Verhalten beispielsweise beim Thema Konsum kritisch zu hinterfragen und unter Umständen zu verändern, stellt sich immer die Frage, wie viel dies tatsächlich bewirkt und welche Folgen dies für unser Zusammenleben hat, wenn wir ununterbrochen mit der eigenen und fremden Scham konfrontiert sind und diese auch zur Schau stellen. Um es etwas ketzerisch auszudrücken: Hilft es der Umwelt wirklich, wenn ich CO2- oder klimaneutrale Produkte kaufe, nicht in den Urlaub fliege, weil es ja in der Heimat auch so schön ist oder hilft es meinem Wohlbefinden, wenn ich mich immer weiter selbst optimiere, um letztlich doch nur neoliberalen Interessen und eben nicht ausschliesslich meiner Gesundheit zu dienen?
Wir müssen den Herausforderungen unserer Zeit adäquat und lösungsorientiert begegnen – das steht ausser Frage. Das schaffen wir aber nur in einem solidarischen Miteinander und nicht in dem wir neue Ideale erschaffen, die sowieso niemand erreichen kann. Vielleicht hat aber auch dies mit der individuellen Freiheit und dem Bedürfnis nach dieser zu tun – ein Thema, welches wir beim letzten Philosophiekreis diskutiert haben.
Ich erlaube mir zum Abschluss eine etwas gewagte These, die an dieser Stelle unbeantwortet bleiben muss: Wenn Scham politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert und als Waffe eingesetzt wird, kann dies nicht dazu führen, dass wir moralisch „richtig“ handeln wollen. Ich glaube das Gegenteil ist der Fall – wenn wir uns ständig für etwas zu schämen haben, schränkt uns dies in unserer individuellen Freiheit ein und führt vielleicht sogar, wie Pfaller im Epilog schreibt, zu einer „Entsolidarisierung“ (134), zu einem Gegeneinander statt zu einem Miteinander. Sicher wäre in diesem Zusammenhang auch der Blick auf identitäre Bewegungen und deren Zulauf, aber auch zu extrem linken Gruppierungen zu untersuchen, führt aber an dieser Stelle weg vom Thema.
Für lohnenswert aber halte ich die folgende Frage: Wofür schäme ich mich und warum? Weshalb handle ich auf die eine oder andere Art und Weise – aus tatsächlichem Umweltbewusstsein heraus, aus Solidarität oder gar aus einer trotzigen „Jetzt-erst-recht“-Haltung? Und was verbirgt sich wirklich dahinter? Auch bei dieser Frage lohnt sich ein wachsamer und – wenngleich inflationär gebraucht – achtsamer Umgang mit der eigenen Scham.
Das nächste Treffen findet am 19. Mai zum Thema „Glück“ statt.
Um Anmeldung wird gebeten.
Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 21. April 2024
Literatur:
Pfaller, Robert: Zwei Enthüllungen über die Scham. Frankfurt a. Main: Fischer, 2. Auflage, 2022.
Schamgefühl (2024, 8. April). In Wikipedia, Online unter https://de.wikipedia.org/wiki/Schamgef%C3%BChl, zuletzt abgerufen am 24.04.2024.
„Scham“. Wahrig, Die deutsche Rechtschreibung. Gütersloh/München, 2019.
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