„Masse und Macht“

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Erneut ging ein Morgen voller philosophisch-politischer Diskussion zu Ende und wieder einmal versuche ich einen kurzen Rückblick , der sich mit meiner ganz subjektiven Perspektive kreuzt. 

Anlässlich der Correctiv-Recherchen zu einem Geheimtreffen der AfD im November 2023 haben wir das zweite Treffen am 21. Januar 2024 dem Thema „Masse und Macht“ gewidmet – dem Phänomen der Masse also und jenem der Macht. Leitfragen, die uns über die gesamte Diskussion beschäftigt haben, waren: Was bringt Menschen dazu offenkundig faschistischen Ideen zu folgen oder überhaupt jemandem oder etwas zu folgen? Welche Ängste werden angesprochen, damit dies geschieht? Und viel entscheidender: Was hat das alles mit jedem Einzelnen zu tun? Hierzu haben wir zunächst eine Passage aus Elias Canettis „Masse und Macht“ gelesen, in der es heisst:

Nichts fürchtet der Mensch mehr als Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. […] Alle Abstände, die die Menschen um sich geschaffen haben, sind von dieser Berührungsfurcht diktiert. Man sperrt sich in Häuser ein, in die niemand eintreten darf, nur in ihnen fühlt man sich halbwegs sicher. […] Diese Abneigung vor der Berührung verläßt uns auch nicht, wenn wir unter Leute gehen. Die Art, wie wir uns auf der Straße, unter vielen Menschen, in Restaurants, in Eisenbahnen und Autobussen bewegen, ist von dieser Furcht diktiert. Selbst dort, wo wir ganz nahe neben anderen stehen, sie genau betrachten und mustern können, vermeiden wir, wenn es irgend geht, eine Berührung mit ihnen. […] Es ist die Masse allein, in der der Mensch von dieser Berührungsfurcht erlöst werden kann. Sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt. Es ist die dichte Masse, die man dazu braucht, in der Körper an Körper drängt, dicht auch in ihrer seelischen Verfassung, nämlich so, daß man nicht darauf achtet, wer es ist, der einen „bedrängt“. Sobald man sich der Masse einmal überlassen hat, fürchtet man ihre Berührung nicht. In ihrem idealen Falle sind sich alle gleich. Keine Verschiedenheit zählt, nicht einmal die der Geschlechter. Wer einen bedrängt, ist das gleiche wie man selbst. Man spürt ihn, wie man sich selber spürt. Es geht dann alles plötzlich wie innerhalb eines Körpers vor sich. (13f.)

Zunächst konnten wir feststellen, dass diese Sichtweise nicht notwendigerweise mit der Erfahrungswelt aller übereinstimmt und auch nicht auf alle Massen, wie beispielsweise jene Menschenansammlungen auf Weihnachtsmärkten oder Ähnlichem, zuzutreffen scheint. Hierbei scheint es sich jedoch auch noch nicht um jene Masse zu handeln, die Canetti zu beschreiben versucht. Auf solche Ansammlungen, in denen sich Menschen leicht mitreissen lassen, wie beispielsweise auf Konzerten oder Fussballspielen, trifft Canettis Analyse wohl eher zu. Alles geht dann, wie Canetti bereits erklärt, wie in einem Körper vor sich. Das Fremde wird zum Eigenen. Weil der Einzelne in der Masse unterzugehen scheint, scheint jedoch gerade dieser leichter manipulierbar zu sein. Auf ihn lässt sich Macht ausüben. Canetti beschreibt die Macht im Gegensatz zur Gewalt wie folgt:

Der Unterschied zwischen Gewalt und Macht läßt sich auf sehr einfache Weise darstellen, nämlich am Verhältnis zwischen Katze und Maus. Die Maus, einmal gefangen, ist in der Gewalt der Katze. Sie hat sie ergriffen, sie hält sie gepackt, sie wird sie töten. Aber sobald sie mit ihr zu spielen beginnt, kommt etwas Neues dazu. Sie läßt sie los und erlaubt ihr, ein Stück weiterzulaufen. Kaum hat die Maus ihr den Rücken gekehrt und läuft, ist sie nicht mehr in ihrer Gewalt. Wohl aber steht es in der Macht der Katze, sie sich zurückzuholen. Läßt sie sie ganz laufen, so hat sie sie auch aus ihrem Machtbereich entlassen. Bis zum Punkte aber, wo sie ihr sicher erreichbar ist, bleibt sie in ihrer Macht. Der Raum, den die Katze überschattet, die Augenblicke der Hoffnung, die sie der Maus läßt, aber unter genauester Bewachung, ohne daß sie ihr Interesse an ihr und ihrer Zerstörung verliert, das alles zusammen, Raum, Hoffnung, Bewachung und Zerstörungs-Interesse, könnte man als den eigentlichen Leib der Macht oder einfach als die Macht selbst bezeichnen. (333)

Macht scheint also subtiler, weil sie weniger leicht erkennbar zu sein scheint. Sie ist dadurch möglicherweise auch gefährlicher als Gewalt.

An dieser Stelle konnten wir zum Phänomen des Befehls überleiten, der immer ausserhalb von mir selbst liegt. Wie ein Fremdkörper scheint er sich im Körper zu manifestieren. Einmal ausgeführt, bohrt sich der Befehl wie ein Stachel des Fremden immer tiefer in das Bewusstsein. (Vgl. Waldenfels) Soldaten führen Befehle aus, weil sie es so gelernt haben. „Man gehorcht, weil man nicht mit Aussicht auf Erfolg kämpfen könnte.“ (Canetti 359) Solange der Befehl ausgeführt wird, hat der Befehlshaber Macht über den Befehlsempfänger. Je länger Befehle ausführt werden, desto schwieriger scheint es zu werden, ihnen zu entgehen: „Aber der Stachel senkt sich tief in den Menschen, der einen Befehl ausgeführt hat, und bleibt dort unverändert liegen.“ (Canetti 360) Dieses Phänomen beschreibt der französische Autor Robert Merle in seinem Roman „Der Tod ist mein Beruf“ auf eindrucksvolle Weise. Inspiriert von den Tagebuchaufzeichnungen des Lagerkommandanten in Ausschwitz Rudolf Höß wird dieser erste Roman aus Tätersicht 1957 veröffentlicht. Darin heisst es: „Es gibt nur eine Sünde, Rudolf! Und das ist: kein guter Deutscher zu sein. Das ist Sünde. Ich, Rittmeister Günther, bin ein guter Deutscher. Was Deutschland mir zu tun befiehlt, das tue ich. Was meine deutschen Vorgesetzten mir zu tun befehlen, das tue ich.“ (Merle 51f.) Ganz ähnlich beschreibt Hannah Arendt den Fall Adolf Eichmann, der ebenso jedweden Befehl ausgeführt hätte, hätte man es ihm befohlen. Zugleich schildert er:

„Ich hatte mit der Tötung der Juden nichts zu tun. Ich habe niemals einen Juden getötet, aber ich habe auch keinen Nichtjuden getötet – ich habe überhaupt keinen Menschen getötet. Ich habe auch nie einen Befehl zum Töten eines Juden gegeben, auch keinen Befehl zum Töten eines Nichtjuden… Habe ich nicht getan.“ Später kam er darauf noch einmal zurück: Es habe sich eben so ergeben, daß er es niemals tun mußte, denn er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er seinen eigenen Vater getötet hätte, wenn es ihm befohlen worden wäre. (94)

Für ihre Theorie der „Banalität des Bösen“ wurde Hannah Arendt, vielfach kritisiert - auch von zionistischer Seite. Dabei ging es ihr gerade nicht darum zu sagen, dass wir alle einen Eichmann in uns tragen, sondern um die Unfähigkeit sich das Gegenüber vorzustellen. Dies ist die Essenz dessen, was Arendt unter „Banalität des Bösen“ versteht. (Vgl. Arendt im Gespräch mit Günter Gaus) Es geht dabei nicht so sehr darum, sich das Böse als etwas Dämonisches vorzustellen, wobei für mich kein Zweifel daran besteht, dass wir alle Gut und Böse in uns tragen. Die eigentliche Frage aber ist, wie anfällig jeder Einzelne von uns für Indoktrination sein kann – von welcher Seite auch immer. Die Frage, die wir uns stellen müssen und die auch diskutiert wurde, ist: Was kann jeder Einzelne tun, um dieser Indoktrination zu entgehen oder ihr entgegenzutreten? Und: Kann ich, auch in der Masse oder in der Gemeinschaft, das Ich zurückgewinnen? Mir scheint, dass gerade dies die Essenz unseres Gesprächs war: Die Rückgewinnung des Ichs. Auch wenn der folgende Satz in der Diskussion keine allgemeine Zustimmung fand, halte ich ihn doch für essentiell, um den Weg aus der Indoktrination zu verstehen: „Wer vom Ich zum Wir will, befindet sich auf dem Weg in die Diktatur. Der Weg aber vom Wir zum Ich führt hinaus.“ (Mai 15) Mir scheint, dass es hier weniger darum geht das eigene Ich, respektive Ego, in den Vordergrund zu stellen und die Gemeinschaft aus dem Blick zu verlieren, als vielmehr, das Ich im Kern zurückzugewinnen, um das „richtige“ zu tun, also ins Handeln zu kommen. Das bedeutet: sich immer wieder zu fragen, was die eigenen Werte sind, wofür man selbst einsteht und was wirklich wichtig ist. Dies mag trivial klingen, ist aber die Essenz dessen was Diktaturen zu zerschlagen vermag. Ich persönlich glaube, dass dies im Kern mit einem Verantwortungsbewusstsein für das eigene Handeln zu tun hat – und dieses kann immer nur vom Ich ausgehen. Ein Satz, der dies vielleicht etwas besser zum Ausdruck bringt: „Wenn man zu einem Teil eines Mechanismus wird, übernimmt man die gleiche Verantwortung wie jedes andere Teil.“ (Albahari) Dies, so meine Ich, trifft sowohl dann zu, wenn man ins Handeln kommt, als auch dann, wenn man nichts tut. Widerstand beginnt nicht im Aussen, nicht auf der Strasse innerhalb der Masse, sondern in uns, in jedem Einzelnen. Das, so glaube ich, ist mit dem Ich gemeint, welches aus der Diktatur hinausführen kann. Damit wir aber gar nicht erst wieder in eine Diktatur hineingelangen, ist eine unbedingte Wachheit des Einzelnen nötig. Angst, Wut, vielleicht sogar Traurigkeit, darüber, dass sich die Geschichte zu wiederholen scheint – all das sind verständliche Reaktionen. Sie führen aber in eine Ohnmacht und damit in eine Handlungsunfähigkeit.

Auf der anderen Seite dürfen auch diejenigen nicht vergessen werden, die sich faschistischen Ideen erst hingezogen fühlen. Eine Partei wie die AfD in Deutschland mag vielen vielleicht ein Gefühl von vermeintlicher Sicherheit und des Verstanden-Werdens geben. Jeder Einzelne muss sich aber im Klaren darüber sein, dass gerade von Seiten solcher Parteien immer Ängste angesprochen werden – häufig auch solche, die gar nichts mit einem Selbst zu tun haben. Es liegt also an jedem Einzelnen zu überprüfen, ob die Versprechungen mit den eigenen Grundwerten übereinstimmen oder diese sogar einschneiden würden, wenn eine Partei wie die AfD an die Macht käme.

Auch wenn ein gewisses Grundvertrauen sicher nötig ist, um in der Gemeinschaft, wie auch in der Masse zu existieren, bedarf es einer Wachheit des Einzelnen, um den Moment, wenn das (vermeintlich) Gute ins Böse umschlägt, nicht zu verpassen. Bleiben wir also wach, überprüfen wir wem und welchen Gedanken, vielleicht sogar Ideologien wir folgen und nehmen wir uns, jeder Einzelne, wichtig – nicht im Sinne des Egos, sondern im Sinne der Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Denkens und Handelns.

Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 21. Januar 2024

Literatur:
Albahari, David: Götz und Meyer. Frankfurt a. Main: Schöffling, 2003.
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München/Berlin: Piper, 13. Auflage, 2016.
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. Main: Fischer, 33. Auflage, 2014.
Arendt, Hannah: Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt. Rbb Rundfunk Berlin-Brandenburg, 28.10.1964. Online unter http://www.rbbonline.de/zurperson/interview_archiv/arendt_hannah.html, zuletzt abgerufen am 10.09.2015.
Mai, Karl-Rüdiger: Ich würde Hitler erschiessen. Sophie Scholls Weg in den Widerstand. Paderborn: Bonifatius, 2023.
Merle, Robert: Der Tod ist mein Beruf. Berlin: Aufbau, 3. Auflage, 2014.
Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1990.

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