„Von Glück. Oder – was ist dein Grund morgens aufzustehen?“

Image: Sean Stratton, unsplash
In diesem Monat ging es im Philosophiekreis um das Thema Glück. Wieder einmal kam eine anregende und spannende Diskussion zustande, die ich hier versuchen möchte mit eigenen Gedanken und Reflexionen zu erweitern. 

Zunächst zum Begriff: Das Wort „Glück“ stammt vom mittelhochdeutschen „gelücke“ und wird ursprünglich u.a. mit den Begriffen „gelingen“, „erlangen“, „Zufall“ und „Gelegenheit“ in Verbindung gebracht. (Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch)

Schon für die antiken Philosophen hatte Glück eine zentrale Bedeutung, wurde aber zum Teil recht unterschiedlich verstanden. So verstand Aristoteles das Konzept der „eudaimonie“ als Endziel eines gelungenen Lebens nach den Anforderungen und Grundsätzen einer philosophischen Ethik. Tugend und Glück gehörten für Aristoteles unmittelbar zusammen und waren miteinander verknüpft. Auch wenn der Begriff „eudaimonie“ oder „eudaimonia“ immer wieder mit „Glück“ oder „Glückseligkeit“ übersetzt wird, meint er aber „vielmehr eine völlige Ordnung und Abstimmung des eigenen und geistigen („daimon“) Verhältnisses zu sich und zur Welt, einschließlich der Handlungen.“ (Fröhlich 21) Die Stoiker, in dessen Tradition auch Immanuel Kant stand, sahen hingegen nicht mehr Glück als Lebensprinzip, sondern die Tugend an sich. Lust, Begierde oder allgemein Affekte, Leidenschaften und Wünsche wurden abgelehnt. Nur wer frei von Affekten war konnte den Zustand der Glückseligkeit erlangen. Für Kant standen Pflichtbewusstsein und Tugend an erster Stelle, nicht aber das Streben nach Glück, welches ohnehin laut Kant nicht zu Lebzeiten erreicht werden konnte. Dem „würdigen“ Menschen konnte dieser Zustand nur nach dem Tod zuteilwerden. Damit steht Kant in der christlich-eschatologischen Tradition.

In der Diskussion waren wir uns sehr schnell einig, dass diese, insbesondere letzteren, Ausführungen von Glück nicht dem entsprechen, wie wir Glück sehen und was es für den Einzelnen bedeuten kann. Zudem wurde angeführt, dass Glück in der Antike hauptsächlich aristokratischen Männern zugesprochen wurde. Alle anderen waren mehr oder weniger davon ausgeschlossen. In diesem Sinne ist „stoisch“ – als (männliche?) Härte, Beharrlichkeit, Selbstbeherrschtheit und Unerschütterlichkeit nicht mehr zeitgemäss, propagiert aber heute noch (in einer neo-stoischen Haltung) ein zutiefst ungesundes und spaltendes Verhältnis zu Glück und Zufriedenheit. Eine Frage, die während der Diskussion aufkam, war, inwieweit Glück ein Gefühl ist oder ob glücklich sein auch funktioniert, ohne sich dabei glücklich zu fühlen. Dies würde zu der eben beschriebenen stoischen Härte passen, wonach das Gefühl Glück an sich nicht erstrebenswert zu sein scheint, sondern ein Ideal ist auf das es hinzuarbeiten gilt.

Die andere Frage war: Kann sich Glück jeder und zu jeder Zeit leisten? Jane Austen schreibt in ihrem Roman Mansfield Park (1814): „Ein hohes Einkommen ist das beste Rezept für Glücklichkeit, das mir bis dato untergekommen ist.“ Vor dem Hintergrund, dass der Roman Anfang des 19. Jahrhunderts erschien, zu einer Zeit als es für Frauen schier unmöglich war eigenes Einkommen zu generieren und reich heiraten kaum eine Option, sondern vielmehr eine Notwendigkeit darstellte – es sei denn man war ohnehin wohlhabend – ist dieses Zitat durchaus nachvollziehbar, verliert aber auch bis heute nicht an Aktualität. Mehr Einkommen führt nicht notwendigerweise zu einem höheren Glücks- oder Zufriedenheitsgefühl, ist aber auch nicht komplett unwichtig. In diesem Sinne spielt auch hier der Freiheitsgedanke eine wesentliche Rolle.

Wie verhält es sich nun aber, wenn wir Glück in Interaktion mit anderen betrachten? Können wir anderen mit einer Haltung begegnen, die wertfrei und einladend ist oder brauchen wir nicht sogar Wertung (im Sinne von eigenen, klaren Werten, die doch niemals wertfrei sind?), um Individualität ausbilden zu können? Und können wir nicht erst dann in die Begegnung mit anderen treten? Was hat das mit Glück zu tun? Juli Zeh und Simon Urban beschreiben in ihrem Roman Zwischen Welten genau das. Zwei Menschen, die sich nach zwanzig Jahren wieder treffen und deren Welten sich in komplett entgegengesetzte Richtungen entwickelt zu haben scheinen – nach #metoo, nach der Pandemie, nach dem Beginn von #fridaysforfuture – all jene Phänomene, die insgesamt betrachtet eine Zäsur des 21. Jahrhunderts darstellen. Trotz ihrer scheinbaren Differenzen stehen sie sich nahe und müssen feststellen, dass ihre Lebenswirklichkeiten daran nichts ändern. Eine Frage, die mich beim Lesen nachhaltig beschäftig hat ist diese: „Vielleicht ist Glücklichsein in Zeiten der Apokalypse der wahre politische Akt?“ (S. 384) Ist also Glücklichsein nicht sogar eine Pflicht - vor dem Hintergrund anhaltender und steigender gesellschaftlicher Spaltungen? Vielleicht auch ein Akt der Rebellion? Beantworten kann diese Frage vermutlich nur jeder Einzelne für sich, wobei hier sicher die Frage mit hineinspielt, was eigentlich wichtiger ist: das persönliche, individuelle Glück oder auch das Glück Anderer, in der Gemeinschaft und im Miteinander? Die Frage, ob dazu eine Haltung im Hier und Jetzt ausreicht oder ein übergeordnetes Ziel entscheidend ist, stand dabei ebenfalls im Vordergrund.

An dieser Stelle haben wir zwei Konzepte besprochen, die, wie ich finde, nicht gänzlich voneinander entfernt sind, sondern sich ergänzen können. Das eine ist ikigai – eine japanische Lebenskunst, die im Grunde genommen nichts anderes bezeichnet als „der Grund, morgens aufzustehen“. (Mogi 31) Als die fünf Säulen des ikigai gelten folgende: 1. Klein anfangen, 2. Loslassen lernen, 3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben, 4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken, 5. Im Hier und Jetzt sein. (Ebd. 11)
Nun ist die Frage, ob der Sushikoch, der jeden Morgen um 4Uhr aufsteht, um den besten Fisch zu bekommen und für seine Kunden hochwertige Sushi herzustellen, ein grösseres Ziel verfolgt oder ob es ihn ausreichend erfüllt, jeden Tag auf`s Neue das beste Sushi zu kreieren? Braucht ein jeder überhaupt ein grösseres Ziel – welches heute scheinbar notwendigerweise mit Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein verknüpft sein muss? Das ist nicht falsch, aber: Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein sind Zeitphänomene, welche mit plötzlicher Heftigkeit eingetreten sind, obwohl wir schon lange wissen, dass wir die Natur ausbeuten und längst etwas dagegen hätten unternehmen können. Die übergeordnete Frage lautet hier: Können wir überhaupt nachhaltig, respektive langfristig, glücklich sein, ohne dabei die Umwelt, unsere Umgebung im Blick zu haben? Die buddhistische Antwort darauf lautet: Nein. Denn wir sind mit unserer Umgebung und unserer Umwelt eng verknüpft und nicht losgelöst von dieser. In einem Bericht aus der buddhistischen Zeitschrift „Forum“ von Juli/August 2020 schreibt Heide Bottling:

„Meistens halte ich mich gar nicht damit auf, was ich habe oder haben möchte, sondern damit, was ich geben kann und wie ich einen Wert schaffen könnte, dort wo ich jeweils bin. Aber in der Begegnung mit dem dezimierten Wald habe ich jäh verstanden, dass Glück für mich alleine nicht ausreichen kann, weil ich mit meiner Umgebung wie ein Tuch verknüpft bin. Mit dem Wald wie mit den Menschen, die mich umgeben und auch denen, die weit von mir entfernt leben.“ (Bottling 10)

Weiter wird die Voraussetzung von Glück beschrieben und die liegt laut dem Neurobiologen Gerald Hüther in unserer Begeisterungsfähigkeit. Wenn ich also von einer Sache begeistert bin, schüttet dies Glückshormone aus. Dies kann dann auch ein Antrieb sein. Das Problem: „Je liebloser die Welt, desto schlimmer für unser Gehirn, denn ohne Begeisterung können wir unsere Potenziale nicht entfalten und glücklich werden.“ (Ebd.) Das bedeutet also: Wir müssen etwas finden, dass uns begeistert und dies am Besten täglich, in unserer täglichen Arbeit. Auch wenn wir nicht behauptet haben, dass beispielsweise Journalist:innen, die im Gaza, in der Ukraine oder anderen Kriegsgebieten auf der Welt ihr Leben riskieren, glücklich sind, so sind sie doch sehr wahrscheinlich begeistert von ihrer Tätigkeit, oder anders: sie würden vermutlich nicht ihr Leben riskieren, ohne einen Entschluss gefasst zu haben, dass hier ein grösseres Ziel dahintersteht – für die meisten ist dieses sehr wahrscheinlich Frieden. Auch darum geht es im Wesentlichen im Buddhismus. Es geht aber weniger darum, wann dieses Ziel erreicht wird, sondern vielmehr überhaupt anzufangen und dafür loszugehen. Insofern sind wir wieder bei den kleinen Schritten von ikigai, die einen Beitrag leisten (können), damit man sich überhaupt auf den Weg macht. Glück, und zwar nicht im egozentrischen und individualistischen, sondern im gemeinschaftlichen Sinn (für das trotzdem jeder bei sich anfangen muss), ist also auch ein Beitrag für Frieden.

Ich hoffe euch hat dieser Exkurs zum Thema Glück zum Nachdenken und Reflektieren angeregt und ich bin schon sehr gespannt auf das letzte Treffen vor der Sommerpause am 16. Juni mit dem Thema „Zeitgeist“.

Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 19. Mai 2024

Literatur:
Austen, Jane: Mansfield Park. London: Flame Tree, 2019. (Erstveröffentlichung 1814)
Bottling, Heide: Was ist denn Glück? In: Forum. Buddhistische Zeitschrift der SGI-D für Frieden, Kultur und Erziehung. Mörfelden-Walldorf: SGI-Deutschland e.V., Nr. 237, Juli/August 2020.
Fröhlich, Günter: Die Aristotelische Eudaimonia und der Doppelsinn vom Guten Leben. In: Archiv für Begriffsgeschichte. Vol 54, 2012, S. 21-44. Online unter https://www.jstor.org/stable/24361681, zuletzt abgerufen am 20.05.2024.
„Glück“, Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, Online unter https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemid=G20069, zuletzt abgerufen am 20.05.2024.
Mogi, Ken: Ikigai. Die japanische Lebenskunst. Köln: DuMont, 11. Auflage, 2023.
Philosophie des Glücks (2024, 20. Mai). In: Wikipedia, Online unter https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_des_Gl%C3%BCcks, zuletzt abgerufen am 20.05.2024.
Zeh, Juli/Simon Urban: Zwischen Welten. München: Luchterhand, 2. Auflage, 2023.

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