„Freiheit – eine kommunistische oder kapitalistische Idee“

Das letzte Treffen des Philosophiekreises am 17. März widmete sich dem Thema „Freiheit“, spezifischer einem Freiheitsbegriff als sozialistisches, respektive kommunistisches, Narrativ im Gegensatz zur kapitalistischen Erzählung von Freiheit.
Grundlegend waren die Fragen: Was verstehen wir unter „Freiheit“? Ist Freiheit des Einzelnen in der Gesellschaft möglich? Wie verhält sich Freiheit in verschiedenen politischen und ökonomischen Systemen und gibt es sie losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen? Ist Freiheit eine kommunistische Idee? Grösstmögliche Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft, die nur im Sozialismus, respektive im Kommunismus, funktioniert? Oder gar eine kapitalistische, bei der das Individuum möglichst frei sein soll, um das grösstmögliche Kapital zu erzielen? Wie immer versuche ich hier einen kurzen Rückblick, gespeist mit eigenen rückblickenden Gedanken.
Im Epilog zu ihrem Roman Free schreibt Lea Ypi:
Many people think of socialism as a theory of material relations, class struggle or economic justice, but […] in reality, something more fundamental animates it. Socialism […] is above all a theory of human freedom (305)
Sozialismus als Theorie menschlicher Freiheit. Ein Gedanke, der schon vielfach probiert wurde, jedoch immer wieder an der Realität zu scheitern scheint. Denn so vielversprechend die Idee einer Gesellschaft, in der jeglicher Klassenkampf aufgelöst und alle Menschen frei sind auch erscheint – eine Theorie braucht immer eine Überprüfung in und einen Abgleich mit der Wirklichkeit. Die Frage ist auch, ob Freiheit, die nur unter Zwang und Unterdrückung erreicht werden kann, tatsächliche Freiheit ist? In Free beschreibt Lea Ypi den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus und damit den Übergang von einer sozialistischen Erzählung von Freiheit zur Erzählung von Freiheit im Kapitalismus auf eindrückliche Weise. Sie schreibt:
I`d always thought there was nothing better than communism. Every morning of my life I woke up wanting to do something to make it happen faster. But in December 1990, the same human beings who had been marching to celebrate socialism and the advance towards communism took to the streets to demand its end. The representatives of the people declared that the only things they had ever known under socialism were not freedom and democracy but tyranny and coercion. What would I grow up into? How would we realize communism now that socialism was no longer there? (128)
Weiter heisst es:
We had been warned that the dictatorship of the proletariat was always under threat by the dictatorship of the bourgeoisie. What we did not anticipate was that the first victim of that conflict, the clearest sign of victory, would be the disappearance of those very terms: dictatorship, proletariat, bourgeoisie. They were no longer part of our vocabulary. Before the withering away of the state, the language with which to articulate that aspiration itself withered away. Socialism, the society we lived under, was gone. Communism, the society we aspired to create, where class conflict would disappear and the free abilities of each would be fully developed, was gone too. It was gone not only as an ideal, not only as a system of rule, but also as a category of thought. Only one word was left: freedom. It featured in every speech on television, in every slogan barked out in rage on the streets. When freedom finally arrived, it was like a dish served frozen. We chewed little, swallowed fast and remained hungry. (137)
Hier wird deutlich, dass die Idee von Freiheit in beiden Systemen – sowohl im Sozialismus wie auch im Kapitalismus – vorherrschend, jedoch grundlegend verschieden ist und dass der Übergang von dem einen in das andere System zu einer grundlegenden Verunsicherung des Freiheitsbegriffs geführt hat. Die Frage, die wir uns in der Gruppe gestellt haben aber ist: Was ist Freiheit im Kern? Oder anders: Was bedeutet Freiheit heute? Nach einigem Nachdenken, stelle ich fest, dass beide Fragen zwar legitim, aber grundsätzlich verschieden sind. Letztere fragt danach was Freiheit heute ist und impliziert, dass Freiheit aus dem gegenwärtigen Standpunkt heraus betrachtet wird. Aber gibt es Freiheit losgelöst vom Heute? Losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen und Systemen?
Freiheit – oder spezifischer individuelle Freiheit – scheint zunächst nicht losgelöst von Prägungen zu sein. Wir alle sind auf gewisse Weise geprägt und damit nicht mehr frei in unseren Entscheidungen und Denkmustern. Das Erkennen und Überprüfen dieser Prägungen scheinen mir grundlegend, um die eigene, individuelle Freiheit zu ermöglichen.
Was aber braucht es, um Freiheit zu erlangen? Einige Begriffe tauchten dabei im Gespräch immer wieder auf: Verantwortung, Anstrengung, Klarheit. Verantwortung – das heisst, Freiheit zu nutzen und verantwortlich mit dieser umzugehen. Anstrengung bedeutet Grenzen der Freiheit zu erkennen und möglichen Versuchungen, beispielsweise durch Werbung, widerstehen zu können. Klarheit meint wachsam und fokussiert zu bleiben, die Bedingungen und Möglichkeiten von Freiheit in unserem heutigen kapitalistischen System zu erkennen und ihnen wach und mit klarem Verstand zu begegnen. Um Freiheit – innere wie äussere – erlangen zu können, braucht es einen persönlichen Beitrag. Wichtig scheint mir auch, dass wir uns darauf besinnen müssen, dass die Freiheit des Individuums nicht allein möglich ist, sondern nur in und mit der Gesellschaft. (Vgl. Amlinger/Nachtwey 58) Die Freiheit des Anderen zu wahren gehört dabei ebenso dazu, wie die eigene Freiheit verantwortlich und klar einzufordern.
Unter Freiheit des einzelnen Menschen verstehen wir das Selbstdenken und das Handeln aus eigener Einsicht und damit die Führung des Lebens in der Kontinuität des eigenen Wesens. […] Unter politischer Freiheit verstehen wir den Zustand der Gemeinschaft, in dem die Freiheit aller Einzelnen die grösste Chance hat. (Jaspers 7)
Wenn wir, wie Karl Jaspers weiter formuliert, „klar erkennen, was in unserer Macht liegt und was nicht, [schafft] uns [das] den Raum unserer wirklichen Freiheit.“ (15)
Freiheit braucht Raum und Zeit. Raum, um sich zu entfalten und Zeit, um zu reflektieren und zu erkennen, dass man möglicherweise „unfrei“ ist. Um mit Lea Ypi zu schliessen: Freiheit ist immer auch eine Wahl – das zu tun, was richtig ist: „despite all the constraints, we never lose our inner freedom: the freedom to do what is right.“ (305)
Das nächste Treffen des Philosophiekreise widmet sich dem Thema „Scham“ und findet am 21. April 2024 wie gehabt im Nomad Café in Brugg statt. Anmeldung hier.
Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 17. März 2024
Literatur:
Amlinger, Carolin/Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin: Suhrkamp, 2022.
Jaspers, Karl: Über Gefahren und Chancen der Freiheit, in der Reihe: Was bedeutet das alles? Ditzingen: Reclam, 2021. (Erstveröffentlichung 1950)
Ypi, Lea: Free. Coming of Age at the End of History. Dublin: Penguin, 2021.
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