Rückblick einer gemeinsamen Erfahrung

Heute, am 17. Dezember 2023, fand das erste Treffen des neu ins Leben gerufenen Philosophiekreises in Brugg statt. Vielen Dank an dieser Stelle an Maja und Roland, für die Möglichkeit dieses Treffen im Nomad Café in einem kleinen Kreis zu veranstalten. Es ging um das Thema Erinnerung und die Verbindung zum Erfahrungsbegriff. Dabei stand die Frage, ob Erfahrung und Erinnerung durch mich selbst oder nur durch die Interaktion mit einem Gegenüber stattfindet, im Fokus.
Wenn ich hier nun einen kurzen Rückblick wage, ist dies sehr wahrscheinlich ebenso subjektiv wie einseitig. Darum ist dies auch nicht als Zusammenfassung zu verstehen, sondern eher als eine Sichtweise, eine Perspektive auf das, worüber gesprochen wurde – denn auch das ist Erinnerung: eine subjektive Wahrnehmung der Welt und immer ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit, so wie sie war oder gewesen sein könnte.
Als Ausgangspunkt diente ein Zitat aus Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“:
„Was wird also aus Ihrem Bewußtsein? Dem Ihren? Dem Ihren. Was sind Sie eigentlich? Schwer zu lösende Frage. Versuchen wir, uns darüber klarzuwerden. In welcher Weise haben Sie eine Erinnerung an sich selber, welchen Teil Ihres Organismus haben Sie bewußt erkannt? Ihre Nieren, Ihre Leber, die Gefäße? Nein, wie sehr Sie sich auch erinnern wollen, Sie haben sich immer nur im Äußeren erkannt, in einem tätigen In-Erscheinung-Treten, in den Werken Ihrer Hände, in der Familie, in der Gemeinschaft. Jetzt bitte ich aufzumerken: der Mensch in den anderen Menschen, das ist die eigentliche Seele des Menschen. Das ist es, was Sie sind. Das ist es, was Ihr Bewußtsein geatmet hat, wovon es sich ernährte, was das Leben erfüllte. Ihre Seele, Ihre Unsterblichkeit, Ihr Leben in den anderen – und nun? In den anderen haben Sie gelebt, in den anderen werden Sie auch bleiben. Und was wäre es für ein Unterschied, wenn das später Erinnerung genannt wird? Sie wären es, die eingetreten ist in den Zusammenhang, in den Zustand des Künftigen.“ (84)
Ist also die Voraussetzung für das Erinnern der Andere? Inwieweit ist Erinnerung mit Erfahrung verbunden? Was ist Erfahrung? Welche gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Voraussetzungen bedingen eine bestimmte Erfahrung? Über eben diesen Zusammenhang wurde im ersten Teil lebhaft diskutiert. Dabei stand immer wieder die Frage im Raum, wodurch Erfahrung möglich wird. Durch mich oder in Interaktion mit anderen? Oder in einem Dazwischen? Gibt es Kulturen in denen es gar kein „Ich“ gibt, die nur im Kollektiv funktionieren? In unserer westlichen Welt ist dies zweifelsohne nicht der Fall. In „Der Mensch ist ein Erfahrungstier“ von Michel Foucault geht es um eben dieses Spannungsverhältnis und um einen Erfahrungsbegriff, der zunächst einmal auf unseren Kulturkreis und unser westliches Wertesystem anwendbar ist: „Eine Erfahrung ist etwas, was man ganz alleine macht und dennoch nur in dem Maße uneingeschränkt machen kann, wie sie sich der reinen Subjektivität entzieht und andere diese Erfahrung – ich will nicht sagen: exakt übernehmen, aber sie doch kennenlernen und nachvollziehen können.“ (33) Bedeutet das, dass die Erfahrung erst einmal in der Stille, mit mir selbst stattfindet, später – sozusagen nach der Erfahrung – aber das Bedürfnis entstehen kann diese Erfahrung mit anderen zu teilen? Ist dieses Teilen das, was eine Erfahrung zu einer "echten" Erfahrung macht? Ist dies dann schon die Erinnerung und nicht mehr die eigentliche Erfahrung? Erfahrung war, Erinnerung bleibt?
Sind wir in unseren Erfahrungsmöglichkeiten frei oder eingeschränkt (durch das Aussen)? Was hat das Ganze mit der persönlichen Wahrnehmung zu tun, der persönlichen Prägung und dem persönlichen Erinnerungsvermögen? Warum haben wir zum Beispiel unterschiedliche Erinnerung an eine gemeinsame Kindheit? Warum ist die eine Erfahrung für mich anders als für mein Gegenüber, obwohl wir doch vermeintlich die gleiche Situation erlebt haben?
Alle diese Fragen wurden aufgeworfen und diskutiert. Dabei ging es viel weniger darum, eine Antwort zu finden, die sich ohnehin nicht finden lässt. Philosophie ist Erfahrung. Philosophieren ein Prozess. Darum geht es in diesem Philosophiekreis – nicht nach Antworten zu suchen, sondern in den Austausch zu gehen, den Prozess der Erfahrung anzukurbeln und im besten Fall den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern.
Wenn dir das auch zusagt, melde dich gerne für den nächsten Termin an. Infos zu neuen Terminen, Thema und Location findest du hier.
Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Philosophiekreis vom 17. Dezember 2023
Literatur:
Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1996.
Pasternak, Boris: Doktor Schiwago. Frankfurt a. Main: Fischer, 1958.
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