Hans Mayer zwischen Archiv und Widerruf
Diesen Monat möchte ich einen kurzen Auszug aus meiner jüngst veröffentlichten Dissertation „Im Erfahrungsraum des Archivs. Hans Mayer: Ein Nachlass auf Widerruf“ mit euch teilen. Diese Arbeit konnte ich dank der Unterstützung von zahlreichen Personen realisieren, insbesondere meinen Mentoren Prof. Dr. Eckart Goebel sowie Prof. Dr. Hubert Thüring. Allen an dieser Arbeit beteiligten Personen danke ich an dieser Stelle sowie der machiavelli edition für die Veröffentlichung dieser Studie. Das nachfolgende Kapitel ist als Einführung zum Gegenstand der Studie zu verstehen: Hans Mayer zwischen Archiv und Widerruf.

Hans Mayer – Ein Deutscher auf Widerruf. Als Jude, Marxist und Homosexueller nicht nur in dreifacher Hinsicht, sondern zugleich intentioneller wie existentieller Außenseiter.* Ein deutscher Jude, der Deutschland vor, während und nach beiden Weltkriegen, das Exil in Frankreich und der Schweiz, sowie das geteilte und wiedervereinte Deutschland aus beiden Perspektiven erlebt hat und durchleiden musste. Ein Leben, das seit der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Jahr 1938 im Zeichen des Widerrufs stand. In Reisen nach Jerusalem schreibt Mayer:
„Ich war kein Zionist gewesen, hatte mich jedoch stets als Jude gefühlt und dargestellt. Mein Erinnerungsbuch trägt den Titel Ein Deutscher auf Widerruf, was heißen soll: meine Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1945 war nicht als Rückkehr in eine Heimat zu verstehen, die es nicht mehr gab. Es war eine Rückkehr in die Fremde.“ (35).
Eine „Rückkehr in die Fremde“ musste Hans Mayer nicht nur einmal durchleben. Auch die „Rückkehr“ in die Bundesrepublik im August 1963, nach fünfzehn Leipziger Jahren, war für Mayer zunächst von Fremdheit bestimmt. Ankommen konnte er vermutlich nie, wenngleich Leipzig für ihn zu einer „Heimat“ wurde, der er nach fünfzehn Jahren den Rücken kehrte. Als promovierter Jurist, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Radiojournalist, Philosoph, Historiker und nicht zuletzt leidenschaftlicher Kenner der Musik, war Hans Mayer in vielfacher Hinsicht begabt. Die Literatur und das Lehren waren es jedoch, die Mayer wirklich erweckten. (Vgl. Mayer. EDW II, 9) Für viele seiner Studenten war er mehr als ein Lehrer. Er lebte die Literatur: „Mein Ort war der Hörsaal 40 in Leipzig. Er ist es geblieben.“ (Ebd., 94)
Will man der Frage nachgehen, von wem und durch wen Hans Mayer beeinflusst war, ist eine pauschale Antwort nicht zu geben. Hans Mayer hat im Laufe seines Lebens so zahlreiche Kontakte geknüpft und über unzählige Schriftsteller (mit wenigen Ausnahmen auch über Schriftstellerinnen)** geschrieben, sodass es kaum möglich ist, all jene aufzuzählen, die Hans Mayers Wirken und Schaffen beeinflusst haben. Diese Frage ist daher nur schwierig zu beantworten und muss zwangsläufig Lücken aufweisen.*** Zu nennen ist Georg Lukács; einer derjenigen, der Hans Mayer wesentlich geprägt und beeinflusst hat. So ist der Einfluss der marxistischen Theorie Lukács bereits in Mayers Dissertation „unverkennbar“ (EDW I, 146), wie Mayer im ersten Band seiner Memoiren Ein Deutscher auf Widerruf schreibt. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie insgesamt die Frankfurter Schule sind zu nennen. Zu erwähnen ist auch Hans Kelsen, der Hans Mayer ins Genfer Exil verhalf.**** Auch Ernst Bloch hatte einen wesentlichen Einfluss auf Hans Mayer, jedoch nicht allein wegen seiner philosophischen Lehre. Er war vor allem eines: ein Freund und enger Vertrauter. Die Übersiedlung der Blochs nach Tübingen kurz nach dem Mauerbau am 13. August 1961 war vermutlich einer der entscheidendsten Gründe für Hans Mayer, ebenfalls nach Tübingen zu gehen: „wohin denn sonst.“ (EDW II, S. 275)
„Unter allen, die Spuren hinterließen in meinen Lehr- und Wanderjahren, war Carl Burckhardt der Entscheidende: er vor allem half mir bei der Entwicklung zur Kenntlichkeit“, so Mayer in seinen Memoiren. (EDW I, S. 207) Carl Jacob Burckhardt war derjenige, der Mayer in seinem Schweizer Exil wesentlich unterstützte, insbesondere bei der Arbeit an seinem Buch Georg Büchner und seine Zeit, das für Hans Mayer den Eintritt in die Leipziger Universität bedeuten sollte. „Bei der Begegnung mit diesem faszinierenden Geschichtsprofessor wurde mir deutlich, daß ich ‚eigentlich‘ ein Schriftsteller sei, wenngleich einer mit ungewöhnlicher Thematik.“ (Ebd., 207) Dies war Hans Mayers eigentliches Verständnis seines Selbstbildes: dass er eigentlich ein Schriftsteller sei.
Unter den Schriftstellern kann man wohl Georg Büchner zu denjenigen zählen, die Mayer am wesentlichsten beeinflussten. Über diesen schreibt Mayer: „Ich las – und hatte plötzlich die gesamte übrige Klassikerlektüre vergessen. Diese Lektüre, das zeigte sich erst viel später, wurde zur Erweckung.“ (Ebd., 26)
Die soeben geschilderten Ausführungen lassen eine von Ambivalenzen gekennzeichnete Biographie vermuten, deren Untersuchung für das Verständnis der deutsch-deutschen Vergangenheit gerade deshalb wichtig wird, weil sich Hans Mayers Œuvre durch eine vielschichtige Beobachtung und Analyse der historischen Zusammenhänge auszeichnet. Das Leben und Werk Hans Mayers ist zudem ein Exempel dafür, wie mit Intellektuellen und Künstler:innen in der ehemaligen DDR umgegangen wurde. Es ist ein Leben und Werk zwischen Archiv und Widerruf. Dass dies nicht so bleibt, ist eines der Ziele der vorliegenden Arbeit.
Das Œuvre Hans Mayers ist jedoch nicht nur anhand übrig gebliebener Dokumente begreifbar. Es ist archiviert und wiederum auch nicht. Insbesondere die Leipziger Jahre, auf die sich diese Studie konzentriert, zeichneten sich durch eine Zeit der Observation und Kontrolle durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und der ständigen Archivierung und Verzeichnung von Gesagtem und Nicht-Gesagtem aus. Dabei wurden Desinformationen verbreitet, Dokumente getilgt oder geschwärzt. Die übrig gebliebenen Unterlagen aus den ehemaligen Stasi-Archiven wurden bis zum 17. Juni 2021 von der 1991 gegründeten Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU)*****, neben Berlin in 13 Außenstellen, verwaltet. Seither ist das Stasi-Unterlagen-Archiv Teil des Bundesarchivs. Die Standorte bleiben bis auf Weiteres erhalten. Bis heute werden Akten geschwärzt; laut Stasi-Unterlagen-Archiv zum Schutz der Persönlichkeitsrechte. (Vgl. Stasi-Unterlagen-Archiv.de) Insbesondere die Beschäftigung mit Fragen des Nachlasses und der Erbschaft im Zusammenhang mit den Beständen des Historischen Archivs der Stadt Köln sowie weiterführend die nähere Untersuchung der Bestände des Stasi-Unterlagen-Archivs****** sind für die vorliegende Studie entscheidend. Die 2006 und 2007 von Mark Lehmstedt herausgegebenen Bände Briefe 1948-1963 sowie Dokumente 1956-1963 dienen dabei als Hauptreferenz. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA) sowie das Universitätsarchiv und Stadtmuseum in Tübingen beherbergen einen Teilnachlass von Hans Mayer. Weitere Archive, in denen nicht Mayers Nachlass, sondern Unterlagen, Dokumente, Briefe oder persönliche Gegenstände Mayers in anderen Beständen aufbewahrt werden, sind das Adorno-Archiv, das Brecht-Archiv und das Benjamin-Archiv der Akademie der Künste in Berlin, das Ernst-Bloch-Archiv in Ludwigshafen am Rhein (der Geburtsstätte von Ernst Bloch) sowie diverse Archive in der Schweiz, wie etwa das Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) der ETH Zürich, um nur einige zu nennen. Für die vorliegende Studie wurden, neben dem Historischen Archiv in Köln und dem Stasi-Unterlagen-Archiv in Berlin, folgende Archive aufgesucht: das DLA, das Brecht-Archiv, das Ernst-Bloch-Archiv, das Tübinger Universitätsarchiv sowie das AfZ. Hierbei ging es weniger darum, eine umfassende Untersuchung der jeweiligen Bestände zu unternehmen, als vielmehr einen Überblick über Mayers Wirken und Schaffen zu erhalten. Die Einsicht in die Bestände des Historischen Archivs Köln war insofern problematisch, als dass hier, aufgrund des Einsturzes im Frühjahr 2009, mit einer zuweilen sehr langen Wartezeit zu rechnen war. Deshalb, sowie aufgrund des Unterbruchs durch die Corona-Pandemie, konnte ich nur einen kleinen Teil der von mir bestellten Dokumente tatsächlich einsehen. Zudem ist der Nachlass Hans Mayers zunächst für die Nutzung gesperrt; eine Einzelfallprüfung ist vor einer Veröffentlichung notwendig. Grundsätzlich ist der Nachlass jedoch einsehbar. Aus diesen Gründen fällt die Auswahl der Archivalien aus dem Historischen Archiv eher schmal aus. Die Einsicht in Bestände des Stasi-Unterlagen-Archivs wird durch das Fehlen von Findbüchern erschwert, sodass Forschende sich hierbei auf die Expertise der Archivar:innen verlassen müssen. Auf beide Problematiken wird in einem separaten Kapitel eingegangen.
Aus den gewonnenen Erkenntnissen der partiellen Einsicht dieser Teilbestände wird die Frage dringlich, die – wie für viele andere Exilautoren – auch für Hans Mayer gilt: Gibt es einen Ort für Hans Mayer? Ein Ort, der all das verwahrt und zugänglich macht, was ein angesehener Literaturwissenschaftler wie Hans Mayer geleistet hat? Ein solcher Ort, so scheint es, kann nur das Archiv sein. Diese Arbeit geht davon aus, dass das Archiv zwar augenscheinlich der beste Ort für die Sicherstellung und Aufbewahrung von Dokumenten ist; da der Ort des Archivs jedoch nicht vor Verlust oder Vergessen gefeit ist, kann das Archiv nicht als einziger Ort gelten, von dem aus Geschichte(n) erzählt werden können. […]
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Anm.: Die Zitierweise wurde in diesem Beitrag zur besseren Lesbarkeit verändert. Anmerkungen (Fussnoten) sind mit * gekennzeichnet.
Anmerken:
* Intentionelle Außenseiter sind Figuren, die „willentliche Einzel-gänger und Sonderlinge“ sind, während der existentielle Außenseiter „die tragische und daher unlösbare Konstellation nicht eigentlich gewollt [hat].“ (Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1981, S. 14).
** An dieser Stelle soll kein Erklärungsversuch abgegeben werden. Auffallend ist jedoch, dass Mayer kaum über Schriftstellerinnen schreibt, beschäftigt sich doch sein Buch Außenseiter unter anderem mit weiblichen Figuren in der Literatur. Pieke Biermann, ehemalige Studentin Hans Mayers in Hannover, war wohl eine der wenigen Frauen, die einen „sehr nahen Blick auf den sonst Frauen oft auch distanziert gegenüberstehenden Mann“ hatte, wie Heinrich Bleicher in der Einleitung zu seinem Gesprächsband über Hans Mayer schreibt. (Bleicher, Heinrich (Hg.): Der unbequeme Aufklärer. Gespräche über Hans Mayer. Mössingen-Talheim: Talheimer, 2021, S. 16).
*** Dieser Aspekt kann und soll in der vorliegenden Studie nicht näher ausgeführt werden. Anhand dieser sehr knappen, lediglich einleitenden Darstellung soll gezeigt werden, dass Hans Mayer ein vielseitig interessierter und begabter Mensch war. Er knüpfte immer wieder neue Kontakte und verzweifelte trotz der zahlreichen Widerrufe nie. Dabei sah er stets den historischen Zusammenhang – auch im Hinblick auf jene, die ihn beeinflussten.
**** „Für mich war diese Begegnung ein Glücksfall, dessen Folgen immer noch nachwirken. Der erste bedeutende Mensch, mit dem ich Umgang haben durfte, und der mich annahm. Er regte an, die Gedanken meiner Doktorarbeit weiterzuführen und vielleicht, nach Abschluß des Großen Juristischen Staatsexamens, eine Habilitationsschrift […] zu wagen […]. Dazu ist es nicht mehr gekommen. […] Kelsen holte mich nach Genf.“ (EDW I, S. 150f.). Obwohl Hans Mayer auch ein Exilautor war, wird der Aspekt des Exils in dieser Arbeit nahezu ausgespart.
***** Letzter Bundesbeauftragter (2011 bis 2021) war der Journalist und Jenaer Bürgerrechtler Roland Jahn, der 2011 die Nachfolge von Joachim Gauck (1991 bis 2000) und Marianne Birthler (2000 bis 2011) antrat. Die Behörde ist umgangssprachlich nach ihrem ersten Leiter und späteren Bundespräsidenten Joachim Gauck (2012 bis 2017) als bis heute umstrittene „Gauck-Behörde“ bekannt geworden.
****** Hier sei bereits darauf hingewiesen, dass zum Zeitpunkt der Einsichtnahme in die Akten (September 2018) die BStU noch bestand. Das Amt des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen wurde zum Amt der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur.
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