Erfahrung und Erinnerung im Kontext der Archivrecherche

Das Jahr 2023 geht mit raschen Schritten dem Ende entgegen und ich möchte mit einem Thema schliessen, welches für die Archivarbeit zentral ist: Erinnerung.
Erinnerung ist für jeden von uns relevant. Wir leben von Erinnerung, oft auch unbewusst. Ein Geräusch oder ein Geruch kann uns an einen bestimmten Moment in unserer Vergangenheit zurückversetzen. Bei dem Geräusch einer knackenden Walnuss denke ich zum Beispiel als erstes an Winter, Schnee und eine warme, wohlige Stube, die nach Moschus riecht – auch, wenn draussen kein Schnee liegt.
Aus der Erinnerung und der Erfahrung mit dieser scheint sich unsere Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Vor allem wie wir erinnern, spielt eine wesentliche Rolle bei dem wie wir unsere Gegenwart wahrnehmen. Dies ist höchst selektiv und sicherlich auch verbunden mit der eigenen Sozialisierung und Prägung, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte. Worauf es mir ankommt, ist die Erfahrung, die hinter der Erinnerung zu stehen scheint.
Eine Erfahrung ist immer neu. „[Von] ‚Erfahren‘ im eigentlichen Sinne des Wortes kann nur dort die Rede sein, wo etwas Neues, Unvorhergesehenes, Unverhofftes und letztlich Überraschendes ins Bewußtsein tritt.“ (Tengelyi) Wenn ich von der Erfahrung hinter der Erinnerung spreche, meine ich damit, dass die Erfahrung als Ursprung der Erinnerung gedacht werden kann. Man könnte auch sagen: Die Erfahrung liegt in der Vergangenheit und kann sich als Erinnerung in der Gegenwart zeigen und erlebbar werden. Die Erfahrung selbst war und scheint als solche nicht zweimal erlebbar zu sein.
Auch sprechen wir davon, dass wir Erfahrungen machen. Reinhart Koselleck geht davon aus, dass Geschichte nicht ohne „Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstruiert worden“ sei. (351) Erfahrung und Erwartung sind für Koselleck zwei historische Kategorien, „die geeignet sind, indem sie Vergangenheit und Zukunft verschränken, geschichtliche Zeit zu thematisieren.“ (353) Durch Erfahrung und Erwartung scheint also Erinnerung erst möglich zu werden.
Archiverfahrung
Wenn wir nun die Prämisse, dass Archive als absolute Speicherorte von Vergangenheit und damit von Erinnerung dienen einmal hinterfragen, wird schnell klar, dass Archive, wie Erinnerungen selbst, sehr selektiv und subjektiv sind. Diese Einsicht galt allerdings nicht immer. In der frühen Neuzeit galten Archive als unbezweifelbare und eindeutige Orte, „die Erinnerung an vergangene Dinge in allgemein glaubwürdiger Weise […] sichern“. (Engelbrecht 70f.)* Zweifelsohne gilt diese Einschätzung auch heute noch. Archive sichern Erinnerung. Allerdings darf dies nicht als unbezweifelbare Tatsache gelten. Archive sind lückenhafte Orte. (Vgl. Didi-Huberman 7) Weder wird man bei der Recherche immer fündig, noch ist die Erinnerung, die in einem Archiv gespeichert ist, immer eindeutig. In diesem Sinne müssen Archive als Erfahrungsräume verstanden werden, die interpretationswürdig sind und bleiben müssen.
Mit einem Mehr an Erfahrung gewinnen wir an Kompetenz – eine Fähigkeit, die auch bei der Archivrecherche von enormer Bedeutung ist. Der Forschende braucht ein gewisses Mass an Kompetenz, um zu wissen, wonach er sucht und um zu verstehen, was die Bedingungen und Möglichkeiten dieser Suche sind. Gleichzusetzen mit Wissen an sich ist Erfahrung aber nicht. „Erfahrung kann nie Wissenschaft sein“, so Gadamer. Ausserdem schreibt er, dass der Erfahrene gerade deshalb offen für neue Erfahrungen ist, weil er Erfahrungen gemacht und aus diesen gelernt hat. (337)
Erfahrung ist also nicht gleich Wissen. Gewissermassen widerfährt sie uns, ohne, dass wir aktiv etwas dafür tun würden. Der Phänomenologe Bernhard Waldenfels schreibt dazu: „Wir gehen davon aus, daß unsere Erfahrung dadurch in Gang kommt und im Gang bleibt, daß uns etwas widerfährt.“ (263) Foucault geht sogar so weit zu sagen, dass eine Erfahrung „immer eine Fiktion“ sei, „etwas Selbstfabriziertes, das es vorher nicht gab und das es dann plötzlich gibt.“ (30) Wenn die Erinnerung mit der Erfahrung verknüpft ist, und die Erfahrung „etwas Selbstfabriziertes“ ist, müssen wir uns fragen, inwieweit wir der eigenen Erfahrung, respektive der Erinnerung an diese Erfahrung, trauen können. Dies soll nicht heissen, dass die jeweilige Erfahrung nicht wahr wäre, sondern lediglich, dass wir dieser mit einer gewissen Skepsis begegnen dürfen, auch um neue Erfahrung machen zu können. Foucault erklärt dies anhand von Überlegungen zu seinem Werk Überwachen und Strafen (1976):
„Das Buch stützt sich auf wahre Dokumente, aber so, daß es, über sie vermittelt, möglich wird, nicht nur Wahrheiten festzustellen, sondern zu einer Erfahrung zu gelangen, die eine Veränderung erlaubt, einen Wandel in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt dort, wo wir bisher keine Probleme sahen (mit einem Wort, in unserem Verhältnis zu unserem Wissen).“ (31)
Diese Erläuterung ist die Essenz dessen, was Wissenschaftler:innen in meinen Augen leisten müssen. Die Dinge zu problematisieren und eine Darstellungsform zu finden, die neue Erfahrungen erlaubt. Foucault schreibt ganz richtig, dass die „wahren Dokumente“ vermitteln und dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass diese selbst eine Wahrheit und schon gar nicht die Wahrheit enthalten. Dieser Aspekt ist virulent für die Archivrecherche. Mir scheint, dass Erfahrung dann möglich wird, wenn wir uns von alten Mustern und damit von alten Erfahrungen und auch Erinnerungen lösen. Foucault schreibt:
„Die Erfahrung, die es uns gestattet, bestimmte Mechanismen zu verstehen (zum Beispiel die Gefängnishaft, die Strafe usw.), und die Weise, in der wir fähig werden, uns von ihnen zu lösen, indem wir sie mit anderen Augen wahrnehmen, sind nur die beiden Seiten derselben Medaille.“ (31f.)
Das bedeutet auch, dass wir eine gewisse Distanz zu den Dingen – auch zu Dokumenten im Archiv, die per definitionem Erinnerung enthalten – herstellen müssen. Dies ist eine Fähigkeit, die ich für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Archivforschung im Speziellen für unabdingbar halte.
Dieser kurze Einblick in die Bedingungen und Möglichkeiten von Erfahrung und Erinnerung hat gezeigt, dass eine weiterführende Untersuchung höchst produktiv wäre. Wichtig erscheint mir, dass Erfahrung, wie auch Erinnerung, stets hinterfragbar bleiben müssen.
Text: © Anne Bendel, Dezember 2023
Anmerkung:
*zit. nach: Friedrich 97.
Literatur:
Didi-Huberman, Georges: Das Archiv brennt, in: Das Archiv brennt, Nachdruck. Berlin: Kadmos, 2018.
Engelbrecht, Georg: Dissertatio De Iure Archivorum, Helmstedt, 1688.
Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 1996.
Friedrich, Markus: Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, 2013.
Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr Siebeck, 2010.
Koselleck, Reinhard: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zwei historische Kategorien, in: Vergangene Zeiten. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 11. Auflage, 1988, S. 351.
Tengelyi, László: Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern. Dordrecht: Springer, 2007, S. xi f.
Waldenfels, Bernhard: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung. Berlin: Suhrkamp, 2015.
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