Der Körper als Archiv

Image: Christopher Campbell, unsplash
Nach einer längeren Sommerpause widme ich mich diesen Monat dem Thema „Körperarchive“. 

Die grosse Sommerhitze ist vorbei, doch der Körper schien die Wärme noch über Tage gespeichert zu haben. Die Erinnerung an die Hitze blieb dem Körper eingeschrieben. Erinnerung schreibt sich nicht allein dem Gedächtnis ein, sondern auch dem Körper. Insbesondere im Tanz lässt sich dies beobachten. Julia Wehren rekurriert in ihren Überlegungen zum Körper als Archiv auf eine Studie von Thomas Lebrun und Foofwa d`Imobilité, die „den Fokus auf den Körper als eine ‘Materialbasis’ im Sinne von gespeicherten Bewegungsmustern und Körperbildern [lenken]“. (Wehren 2) Die Frage ist, wie sich ein Körper eine Choreographie – in gewisser Weise einen „Besitz“ aus dem Fundus des Anderen (in den meisten Fällen des Choreographen) – einverleiben kann. Wenn Tänzer:innen tanzen „stützen [sie] sich auf ein Erinnerungsvermögen, das den Körper eine Bewegung wiederholen lässt. Das körperliche Wissen wird auf andere Tänzer/innen übertragen […] und einem Publikum zugänglich gemacht. […] Die Funktion einer solchen Erinnerungs- und Wahrnehmungsleistung des Körpers kann als eine archivische bezeichnet werden.“ (ebd.)

An dieser Stelle lässt sich hinzufügen, dass die Zugänglichkeit zu einem Publikum eine weitere Funktion erfüllt, die Voraussetzung für die Erfahrbarkeit von Archiven ist. Hier scheint mir eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Archiv und Körper zu liegen. Ein Archiv braucht Besucher:innen, ohne die es seine Funktion nicht erfüllen könnte. Es braucht ein Aussen. Oder anders: Der Andere ist Voraussetzung für das Eigene. Der Tänzer braucht gewissermassen den Körper des Choreographen, dessen Feedback sowie die Reaktion des Publikums, ohne welches die Erfahrung unabgeschlossen wäre.
Ohne den Anderen, ohne das Fremde, Unvorhersehbare, lässt sich das Eigene kaum erfahren. Das Fremde (in gewisser Weise können das Publikum in einer Vorstellung oder die Besucher:innen eines Archivs als das „Fremde“ betrachtet werden, auch, weil sich die Reaktionen des Publikums oder der Besucher:innen kaum vorhersehen lassen) ist Bedingung und Möglichkeit des Eigenen. Fremderfahrung ist existentiell verwoben mit der Eigenerfahrung. Bernhard Waldenfels fasst dies in seiner „Topographie des Fremden“ wie folgt zusammen: „Eigenes und Fremdes [sind] mehr oder weniger ineinander verwickelt […], so wie ein Netz sich verdichten oder lockern kann“. (67) Übertragen auf den Körper könnte man sagen: Die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Körpers lassen sich erst durch den Anderen (den anderen Körper) erfahren und so auch in der Erinnerung verankern. Auf diesen Aspekt komme ich weiter unten im Zusammenhang mit Kim de L`Horizons „Blutbuch“ nochmals zu sprechen.

Wechseln wir also das Medium vom Tanz zur Literatur. Auch hier spielt dieser Gedanke eine Rolle: Die Auslotung von Grenzen und Möglichkeiten von Körpern in Verbindung mit der Erinnerung. Auch dieser Gedanke hat etwas archivisches. Wenngleich sich die Beschäftigung mit dem „Körper“ in der Literatur- und Geisteswissenschaft seit dem Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt zu haben scheint, ist es durchaus nicht neu „den Körper kulturwissenschaftlich oder soziologisch [und ich möchte hinzufügen – philosophisch] zu ‘lesen’.“ (Vgl. Nesselhauf) Allerdings lässt sich „‘ein neu erwachte[s] Interesse am Körper’ konstatieren.“ (Vgl. Gugutzer) Diese Tendenzen haben unweigerlich mit dem Aufkommen der Geschlechterforschung ab Mitte des 20. Jahrhunderts (Simone de Beauvoir „Das andere Geschlecht“, im frz. Original 1949 erschienen) sowie seit den 1990er Jahren mit Judith Butlers „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) zu tun. Die Untersuchung der Speicherung von Erinnerung im Körper ist zudem zentraler Gegenstand der „Body Studies“. In der Literatur selbst wird der Körper in Verbindung mit der Erinnerung immer wieder zum Motiv. Dies möchte ich anhand von zwei neueren Romanen kurz ausführen.

Zum einen anhand des Romans „Lügen über meine Mutter“ (2022) von Daniela Dröscher und zum anderen anhand Kim de L`Horizons „Blutbuch“ (2022). In den beiden Romanen spielt die Mutter eine zentrale Rolle, deren Körper immer wieder zum Thema wird. Es geht hier weniger darum die beiden Romane zu vergleichen, als vielmehr den Körper (eigenen und fremden) als Mittel zur und Medium von Erinnerung zu beschreiben. In Abwandlung mit Hegel gesprochen: „Oder ist [der Körper]* nicht Werkzeug unserer Tätigkeit, sondern gewissermaßen ein passives Medium, durch welches hindurch das Licht der Wahrheit an uns gelangt, so erhalten wir auch so sie nicht, wie sie an sich, sondern wie sie durch und in diesem Medium ist.“ (69f.)

Insbesondere in „Lügen über meine Mutter“ ist der Körper der Mutter von Beginn an präsent: „Meine Mutter passt in keinen Sarg. Sie ist zu dick, sagt sie.“ (5) Weiter heisst es: „Ihr Unglück lag meine ganze Kindheit und Jugend über wie Blei auf meinen Schultern. Deshalb ist das hier nicht nur ihre, es ist auch meine Geschichte.“ (6) Schon hier wird eine Verbindung der eigenen Geschichte mit der Geschichte der Mutter aufgebaut. Das Kind erzählt die Geschichte der Mutter, die auch die eigene ist. Dabei ist der Körper der Mutter wesentlich. Und der Vater, der diesen ständig kritisiert, dessen Körper aber kaum eine Rolle einnimmt. Vielmehr ist der Blick des Vaters entscheidend. Der Blick des Vaters prägt auch die Sichtweise des Kindes, die den Körper ihrer Mutter lange Zeit nur durch eben diesen wahrnimmt und damit auch ein Stück weit ihren eigenen Körper:

„Was für ein Paradox: Ich hätte als Heranwachsende alles dafür gegeben, meine Mutter vor den abschätzigen Blicken ihrer Umgebung beschützen zu können. Zugleich aber registrierte ich eine erwachende Scham in mir. Die wenigsten Mädchen wollen so aussehen wie ihre Mutter. Das ist eine verständliche Abgrenzung. In meinem Fall steckt eine komplizierte Distanznahme dahinter. Früh hat sich in meinen kindlichen Blick der Blick meines Vaters eingeschrieben. Lange Zeit habe ich seinen Blick mitgesehen, ob ich wollte oder nicht. Ich musste lernen, ihn aktiv zu verweigern.“ (61)

Interessant dabei ist, dass der Blick nicht eigentlich mit dem Sinnesorgan der Augen in Verbindung gebracht wird. Immer nur ist vom Blick des Vaters oder der Anderen die Rede, nicht aber von den Augen – alles Leibliche, alles Körperliche des Vaters scheint abwesend. Im Kapitel Der Blick in „Das Sein und das Nichts“ schreibt Sartre: „wenn ich den Blick erfasse, höre ich auf, die Augen wahrzunehmen. […] Der Blick des Anderen verbirgt seine Augen, scheint vor sie zu treten.“ (466) Und weiter heisst es bei Sartre: „wir können nicht die Welt wahrnehmen und gleichzeitig einen auf uns fixierten Blick erfassen; es muß entweder das eine oder das andere sein.“ (467) Das Kind in „Lügen über meine Mutter“ scheint dem Blick des Vaters in gewisser Weise ausgeliefert. Auch sie kann sich diesem Blick nicht entziehen. Auch sie ist von den Blicken des Vaters auf ihren Körper nicht befreit:

„Ich sprang von einem Bein aufs andere und hüpfte im Schlafzimmer meiner Eltern herum […] Mein Vater applaudierte anerkennend, als er sah, wie ich in einem fort Pirouetten vor dem Spiegel im Schlafzimmer drehte. ‘Schlank und rank’, lobte er. Ich war erleichtert, hatte ich doch Angst gehabt, dass er mich neuerdings nicht mehr so hübsch fand wegen der kurzen Haare. Trotzdem hörte ich bei seinem Kompliment einen sonderbaren Unterton in der Stimme heraus. Ich fühlte, wie die Freude verflog und mir übel wurde mit einem Mal. Meine Mutter faltete gerade ein Sommerjackett in den Koffer meines Vaters. Aus dem Augenwinkel registrierte ich, wie ihr Gesicht ebenfalls zuckte. Sie war nicht schlank und rank.“ (300)

Dieser Vergleich scheint sich in das Kind eingeschrieben zu haben: „Vom Körperbau her ‘komme ich nach meinem Vater’. Trotzdem war ich als Heranwachsende davon überzeugt, dass ich ebenfalls einmal dick werden würde.“ (61) Es ist noch etwas anderes wesentlich: Der Körper, die Haltungen des Körpers der Mutter scheinen unmittelbar mit einer Scham verknüpft zu sein – Scham und Stolz zugleich: über die eigene errungene (finanzielle) Unabhängigkeit und die historischen Errungenschaften der Frauen, die eigenes Geld verdienen können und (im Geburtsjahr der Erzählerin 1977**) berufliche Selbstbestimmung erlangten (Vgl. 20). Dies alles ist subtil zwar, und möglicherweise im Unterbewusstsein der Person (hier der Mutter), über die gesprochen wird, verankert. Daniela Dröscher aber schafft es diese Subtilität, diese feinen Nuancen an die Oberfläche zu holen:

„Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie ihr Portemonnaie öffnet. Im Kaufhaus, in der Fußgängerzone. Etwas daran wirkt verschämt und zugleich stolz. Es ist dieselbe Haltung, mit der sie aus dem Schlafzimmer hervortritt, wann immer sie mir ein neues Kleidungsstück vorführt.“ (20)

Ist also das Körperwissen mit historischem Wissen verankert? Oder anders: Findet das Wissen des Unterbewusstseins Ausdruck durch den Körper? Mir scheint, dass dies hier der Fall ist. Jedoch wird dieses Wissen erst durch den Anderen – hier durch das Kind erfahrbar. Das Kind, welches beobachtet und das Körperwissen der Mutter mit historischem Wissen verbindet, allerdings erst als Schreibende und Erwachsene. Der Körper der Mutter wird so zum Mittel der Erinnerung für die Stimme der Tochter, durch die der Roman erzählt wird.

Bei Kim de L`Horizon hingegen ist es die Grossmutter, im Roman als „Grossmeer“ bezeichnet, die sich durch den Roman hindurchzieht und einen Zugang zur Erinnerung zu ermöglichen scheint. De L`Horizon schreibt: „Ich spüre, wie du langsam verschwindest. Liebe Grossmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus deinem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.“ (13) An anderer Stelle heisst es:

„Ich erinnere mich daran, dass Grossmeers Hände in mich hineinfassten. In meiner Erinnerung sind Grossmeers Hände so allein mit sich; die eine greift ständig nach der anderen, und dann krallt sich die andere die eine, sie suchen ununterbrochen, suchen etwas zum Halten, packen meine Kinderbeine und Kinderarme und streicheln sie unbarmherzig. Ich erinnere mich nicht an meine Kinderbeine und Kinderarme, ich erinnere mich nur an das Gefühl einer grossen Rauheit und an das Wissen, dass ich hinhalten muss, das Grossmeer das braucht.“ (20f.)

Die Erinnerung an den eigenen Körper (oder vielmehr ein Gefühl, welches sich durch den Körper hindurch manifestiert und sich in den erwachsenen Körper eingeschrieben hat) scheint unmittelbar mit der Erinnerung an die Hände der Grossmutter verknüpft zu sein. Auch andere Körperteile spielen dabei eine zentrale Rolle – die Hände, Füsse, der Mund, die eigenen Zähne, die Zehen. Immer wieder wird deutlich, dass der Körper vom Ich abgetrennt zu sein scheint:

„Ich lernte an Grossmeers Füssen, dass Körperteile Wesen sind, die gegen einen arbeiten, die nicht dasselbe sind wie mensch selbst, die ein anderes Geschlecht haben, eine andere Spezies sein können. Und dass die Gefühle, die mensch dem Körper gegenüber hat, vielleicht im Körper anfangen, sich dann aber im ganzen Raum ausbreiten.“ (21)

Auch die Erinnerung an den eigenen Körper, oder vielmehr das Nicht-Erinnern, belegt dies:

„Ich erinnere mich kaum an mich als Kind. Oder vielleicht meine ich: Ich erinnere mich kaum an den Körper des Kindes. In der Zeit, über die ich schreibe, habe ich noch keinen Körper. Viel eher als einen Körper erinnere ich mich daran, eine Wahrnehmung zu sein […] Mich gab es nicht; es gab mein Rennen, aber es gab keine Beine; es gab den Wind, den mensch beim Rennen spürt, aber kein Gesicht und keinen Nacken, die diesen Wind fühlen können“ (23f.)

Die Verknüpfung des eigenen Körpers mit einem Fundus an Erinnerung wird am Anfand des Kapitels „Körper: heute“ besonders deutlich:

„Auch heute noch spüre ich meinen Körper nicht richtig. Ich stosse mich andauernd, an Tischkanten und -beinen, offenen Türen und Schranktüren, ich werde angerempelt und rempele an. Ich weiss nicht, wo ich anfange und wo ich aufhöre. […] Wenn ich Käse oder Karotten raffle, raffle ich mich mit. Dann fehlt da Haut, fehlt Ich. Mein Körper, dieses Überbleibsel, transformiertes Uraltes, Materie, die schon unzählige andere Formen war: Steine, Erde, Pflanzen, Luft, Bakterien, Pilze.“ (30)

Die Erzählstimme geht hier davon aus, dass der Körper ein „Überbleibsel“, ein Rest ist, welcher sich aus unzähligen anderen Formen zusammensetzt. Man könnte auch sagen: Der Körper scheint aus einem Fundus an Wissen zu bestehen, welches uralt ist. Erfahrbar wird dieses Wissen, wird der eigene Körper, erst durch den Anderen, hier, durch den intimen und zugleich brutalen Akt der Penetration:

„Ich spüre meinen Körper nur, wenn ich ihn fortgebe, wenn ich ihn anderen anbiete, jemensch in mich eindringt, die selbst errichteten Grenzen meines Körpers durchdringt und sich dahinter hinterlässt. Ich habe nicht primär das Bedürfnis, Schwänze in mir zu spüren, ich habe das Bedürfnis, mich zu spüren“ (30)

Das Spüren, die Erfahrbarkeit des eigenen Körpers durch den Anderen geht unmittelbar mit der Suche nach dem eigenen Ursprung, dem Wunsch nach Selbstermächtigung und Selbstbestimmung über den eigenen Körper einher. In „Blutbuch“ wird dies durch den Akt des Schreibens, des Darüber-Schreibens an die „Grossmeer“ deutlich:

„Ich schreibe dir dies, Grossmeer, weil ich seit langer Zeit versuche, über meinen Körper zu verfügen, wie ich will […] Ich schreibe dir, um gegen die Verachtung anzuschreiben, die ich für diesen Körper empfinde, seit ich denken kann, und die vielleicht auch mitverantwortlich dafür ist, dass ich so wenige Erinnerungen an ihn habe. Wie ist etwas festzuhalten, das immer nachgibt, verschwimmt, zerfliesst? Ich schreibe dir dies, um gegen die body negativity anzuschreiben, die ich geerbt habe; vielleicht nicht von dir direkt, aber von der christlich-zentraleuropäischen Kultur. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, es geht darum, die Fäden aufzudröseln, die uns gewoben haben: die Fäden, die uns unter Männlichkeit Leidenden zusammenknoten, die jede*n von uns in einem Kokon aus Schweigen, Scham und Scheinheiligkeit gefesselt haben, zu entwirren. […] Ich schreibe dir dies, weil ich als Kind Angst vor dir hatte, weil ich spürte, dass du nie einen Körper hattest, weil ich immer noch wütend bin, dass du mich gebraucht hast, meinen Körper; […] Ich schreibe dir, weil es mich nur durch deinen Körper gibt, weil ich deine Fortsetzung bin und weil ich gewisse Dinge nicht mehr fortsetzen will.“ (31f.)

An dieser Stelle wird deutlich, was ich bereits weiter oben angesprochen habe: Die Erinnerung an den eigenen Körper wird nur durch die Erinnerung an den Körper der „Grossmeer“ deutlich. Man könnte sagen: Das eigene Körperarchiv setzt sich nicht nur aus den eigenen Erinnerungen zusammen, sondern aus einem Konvolut an Erinnerungen vergangener Körper. Durch den Akt des Aufschreibens und Weitergebens darüber wird Erinnerung (re-)produziert, welche letztlich zum Verständnis beitragen soll. Auch in „Lügen über meine Mutter“ ist dies der Fall:

„Die Geschichte, die mir vorschwebt, ist eine Geschichte mit viel Schminke, blonden Perücken, Trapez und doppeltem Boden. Eine in vielerlei Hinsicht absolut fiktive Geschichte. In der Philosophie beschreibt die Fiktion ein ‘methodisches Hilfsmittel bei der Lösung eines Problems’. Mein Problem lautet: Es gibt in meiner Familie so viele Geheimnisse, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.“ (6)

Beide Romane haben dies gemeinsam und wenngleich ich anfangs konstatiert habe, dass es mir nicht so sehr auf einen Vergleich ankommt, möchte ich an dieser Stelle doch kurz einen Vergleich anstellen. Neben dem Motiv des Körpers und der Erinnerung haben beide eine weitere Gemeinsamkeit: Die Verwandlung der Eltern und Grosseltern in Figuren. Daniela Dröscher schreibt: „Wenn ich meine subjektive Wahrheit über das Geld und alles andere herausfinden will, muss ich meine Eltern in Figuren verwandeln. Figuren, die mir dabei helfen, zu verstehen, wer hier eigentlich welche Lügen über wen erzählt hat.“ (7) Bei Kim de L`Horizon heisst es: „Ich schreibe von ‘Grossmeer’, als wärst du eine Romanfigur, Grossmeer. Als wärst du nicht unentwegt in mir, als könnte ich eine Distanz zu dir herstellen. Aber ich brauche diese Haltung. Ich muss über dich verfügen können wie über eine Figur, sonst schreibe ich Dinge nicht, deretwegen ich schreibe.“ (23)

Die Hinwendung zur Fiktion also, ist ein entscheidendes Hilfsmittel zum Verständnis der eigenen Erinnerung, des eigenen Körperarchivs – wenn auch nicht immer die Lösung, so doch vermutlich eine von vielen möglichen.

Text: © Anne Bendel, September 2023

Anmerkungen:
* Anm. 1: Bei Hegel heisst es „[…] das Erkennen“ anstatt „der Körper“
** Anm. 2: Bezogen auf die damalige Bundesrepublik (BRD).

Literatur:
de L´Horizon, Kim: Blutbuch. Köln: Dumont, 3. Auflage, 2022.
Dröscher, Daniela: Lügen über meine Mutter. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 4. Auflage, 2022.
Gugutzer, Robert: Soziologie des Körpers. Bielefeld: Transcript, 2013.
Hegel, Georg W. F.: Phänomenologie des Geistes. Paderborn: Voltmedia, 2005. (Erstveröffentlichung 1807)
Nesselhauf, Jonas: Der Körper ist zurück, in: Literaturkritik.de, 02.02.2015, online unter URL https://literaturkritik.de/id/20196, zuletzt abgerufen am 26.08.2023.
Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Hamburg: Rowohlt, 1993. (Erstveröffentlichung 1943)
Waldenfels, Bernhard: Topographie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.
Wehren, Julia: Überlegungen zum Körper als Archiv, in: MAP-media, archive, performance, 5, 05.09.2014. Online unter https://boris.unibe.ch/id/eprint/50618, zuletzt abgerufen am 26.08.2023.

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