„Vertrauen & Fake News in Literatur und Fotografie“

© Daniel Rihs

In diesem Monat sprachen wir in Das Literarische Café über Vertrauen & Fake News in Literatur und Fotografie. Zu Gast war der Fotojournalist Daniel Rihs, der uns im zweiten Teil einen Einblick in die Welt der Fotografie gab. Auch hier spielte das Thema Vertrauen eine wichtige Rolle.

Es gibt nicht eine Szene in diesem Buch, die sich im wahren Leben so zugetragen hat. Alle Figuren sind vollständig erfunden und gleichzeitig bin ich der tiefen Überzeugung, dass nur das Erfundene sich der Wahrheit annähern kann.

– Sophie Hunger, SRF 2 Literaturclub Zwei mit Buch. 13.3.2025 (Minute: 17:55). Mundart.)

Vertrauen als "ein Gefühl hinter den Gefühlen" (Wertheimer 7) – ein Gefühl also, dem noch etwas anderes vorauszugehen scheint. Etwas wie Zuneigung oder Sympathie – Zwischenmenschliches also. Vertrauen steht dabei erst einmal im Gegensatz zu Wissen, oder vielmehr ist es aus psychologischer Perspektive ein Zustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Im Lexikon der Psychologie heisst es dazu: "Jemand, dem alle relevanten Umstände seines Handelns bekannt sind, braucht nicht zu vertrauen, während jemand, der nichts weiß, nicht vertrauen kann." Vertrauen ist ausserdem etwas zukunftsbezogenes, beruht aber gleichzeitig auf Erfahrungen aus der Vergangenheit. (Vgl. ebd.) 

Ist Vertrauen nicht aber auch etwas, das durch gut erzählte Geschichten entsteht? Vielleicht sogar durch Fiktion oder Inszenierung? Oder glauben wir dann erst recht nicht, was uns erzählt wird?

Eine solche gut erzählte Geschichte jedenfalls ist Charles Lewinskys "Der Halbbart" (2020), in der es vor Lügen, Mythen und Geschichten nur so wimmelt. Alles dreht sich um die Gründungsmythen der Schweiz, von denen wir wissen, dass vieles davon historisch nicht belegbar, gleichzeitig jedoch von zentraler kultureller Bedeutung für die Schweiz ist – bis heute.

Der Halbbart – "man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen." (13) Sebi, der 13-jährige Erzähler, lebt in einem Dorf in der Talschaft Schwyz. Sebi will weder Soldat noch Bauer werden, noch will er ins Kloster. Das Einzige was ihm bleibt, ist Geschichtenerzähler zu werden. Genau dabei spielt der Halbbart eine entscheidende Rolle. Lewinskys "Der Halbbart" ist dabei aus meiner Sicht kein historischer Roman. Vielmehr benutzt er die Mythen rund um die Gründung der Schweiz, um uns einen Spiegel vorzuhalten und auch wenn Lewinsky so manch einem plakativen Spruch nicht ausweicht - "Verstehst du jetzt, warum ich meine, dass Menschen gefährlicher sind als Wölfe?" (140) - möchte der Roman aus meiner Sicht eher die Gegenwart skizzieren als das Mittelalter, denn so viel besser scheint es heute nicht zu sein. Noch immer wird gelogen, Mythen reproduziert, manipuliert. Wenn wir eine Geschichte erzählen wollen, hören wir einfach an der spannendsten Stelle auf und erzählen morgen weiter: "Er [der Halbbart] fand, es sei genug für heute, aber ich bettelte ihn an, noch einmal eine Runde zu beginnen. Ich wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte weiterging." (132). So hat "Der Halbbart" auch etwas von "1001 Nacht", in der Schahrasad dem König jeden Abend einen neuen Abschnitt ihrer Geschichte erzählt, die sie an der spannendsten Stelle aufhört, um nicht vom König ermordet zu werden – hier sicherlich aus einer anderen Motivation heraus (nämlich, um auch anderen Frauen das Leben zu retten). Die Technik des Geschichtenerzählens scheint mir jedoch ähnlich, soll aber hier nicht ausgeführt werden.

Eine weitere Geschichte ist die Geschichte rund um den bekanntesten Marchenstreit der Schweizer Geschichte. Sebi erfindet ein Spiel mit eben diesem Titel und sein Bruder Poli, dem es nicht passt, dass er nicht mitspielen kann, befindet einfach irgendwann, dass die Spielregeln nicht mehr gelten.*

Die Spielregeln werden auch in der Weltpolitik, wie es scheint fast täglich, geändert. Seit dem zweiten Amtsantritt Donald Trumps, der, man könnte ohne Weiteres behaupten, Sinnbild für Fake News ist, sieht es fast so aus. "Wir leben in Orwell`schen Zeiten" - auch diese fast zur Floskel gewordene Aussage, häuft sich in den sozialen Medien. Mit "1984" hat George Orwell in den Jahren 1946-48 einen damals (und auch 1984 noch, obwohl man Einschränkungen machen muss, wenn es um Überwachungsmechanismen im Kalten Krieg geht) dystopischen Roman verfasst, in dem es um totale Überwachung, Faktenverdrehungen und die systematische Auslöschung der Geschichte geht. Genau das erleben wir seit dem zweiten Amtsantritt Donald Trumps in den USA. Die Nationalarchivarin wird entlassen, aus den Archiven und offiziellen Dokumenten werden Wörter, die mit Gleichstellung, Transgender oder jeglicher Diversität zu tun haben, gestrichen. Der Black-Lives-Matter-Schriftzug, der in Washington seit Juni 2020 nach den Protesten rund um die Ermordung George Floyds durch Polizeigewalt zu sehen war, wurde bereits entfernt.

Die Liste der Einschränkungen könnte täglich ergänzt werden. Fake News, Lügen, Desinformation und Manipulation sind dabei nichts Neues – auch das will uns der Roman "Der Halbbart" sagen. Nur scheinen wir in einem Zeitalter angekommen zu sein, in dem kaum mehr jede einzelne Meldung zu überprüfen ist. Selbst als dies noch möglich schien, hielten sich so manche Dinge, vehement im Netz.

So hielt sich beispielsweise über ein Jahrzehnt auf Wikipedia die Geschichte, dass ein gewisser Alan MacMasters den Toaster erfunden hätte. Erst 2021 deckte ein fünfzehnjähriger Schüler auf, dass dies ein Fake war – und zwar, weil er sich das Foto Alan MacMasters einmal genauer anschaute. Um den Spannungsbogen auch in dieser Geschichte nicht zu stören – die ganze Geschichte zu Alan MacMasters und der Erfindung des Toasters findet ihr im Podcast "Erwartet unerwartet" (Folge 32).

Eine Frage jedenfalls, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist: Können wir unseren Augen (noch) trauen? Konnten wir das im Zusammenhang mit Fotografie überhaupt jemals? Im Gespräch wurde schnell deutlich, dass wir dem gesprochenen Wort - Politiker:innen beispielsweise – doch eher zu misstrauen scheinen als einer Abbildung. Einem Foto wird – oder muss man sagen wurde bis zur Einführung von KI? – eher vertraut als Worten. Dieser Eindruck jedenfalls entstand nachdem einige der Teilnehmenden (mich eingeschlossen) die nachfolgende Fotografie! (dies ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, denn ein KI-generiertes Bild ist keine Fotografie) wahlweise für ein Gemälde oder KI-generiertes Bild hielten.
© Daniel Rihs, privat
Dabei handelt es sich hierbei zwar um ein manipuliertes, weil coloriertes, Foto – jedoch weder um ein Gemälde noch um ein KI-generiertes Bild. Manipuliert ist es auch deshalb, weil die Jacken eigentlich (das heisst in Wahrheit) rot waren und nicht, wie auf dem Foto zu sehen grün. Dies wiederum wissen wir lediglich aus der Erzählung von Daniel Rihs aus dessen Privatbesitz (Familienfoto) dieses Foto stammt. Insofern ist hier eine Verflechtung von Bild und Erzählung, die eng mit Erinnerung verknüpft ist, zu erkennen. Solange sich noch jemand daran erinnert, wie die Jacken tatsächlich – oder wie man so schön sagt in Tat und Wahrheit – aussahen, kann dies auch weitergeben, respektive dokumentiert werden. 

Ein weiteres Beispiel war eine Fotografie von Cristina De Middel.
Auch hier wurde zunächst vermutet, dass das Foto in irgendeiner Weise manipuliert sei – eine Montage eventuell. "Irgendetwas stimmt mit dem Foto nicht", hiess es. Eine Teilnehmende sagte in etwa "Ich glaube das Bild möchte uns etwas sagen." In der Tat – das Foto zeigt einen jungen Mann, der an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, ganz nah an der Mauer, einen Sprung an einer Stange trainiert. Es scheint als wolle er die Grenze überschreiten. Ein Übertritt, der verwehrt wird. Es ist eine Inszenierung – eine Szene also, die vielleicht gerade weil sie inszeniert ist, näher an der Wahrheit ist, als eine "reine" Fotodokumentation es sein könnte. Es zeigt Migrant:innen in Aktion, handelnd also und eben nicht in einer Opferrolle verharrend, wie Daniel Rihs erklärte. Das ist vielleicht die grösste Leistung dieses Fotos.

Die Frage also, die sich im Gespräch auf individuellerer Ebene stellte – nämlich, ob man bewusst lügen, respektive manipulieren darf oder sogar in gewissen Fällen muss – muss an dieser Stelle mit ja beantwortet werden. Ohnehin, so jedenfalls schreibt Christoph Poschenrieder in der Notiz zu seiner Geschichte "Der unsichtbare Roman" (2019), in dem der Schriftsteller Gustav Meyrink einen Roman über die Schuld am 1. Weltkrieg schreiben soll, die laut Auswärtigem Amt wahlweisen den Juden oder den Freimaurern galt, "scheint mir Fakt jene Fiktion zu sein, auf die sich alle (zumindest die meisten) einigen können." (268)

Literatur und Fotografie sind zweifelsohne zwei starke Gegennarrative, die uns beide viel zu erzählen haben. Vielleicht können wir mit geschultem Blick auch hierin Wahrheiten erkennen, die wir nirgends sonst finden könnten. Ich halte dies für ein grosses Potential, das erlernt werden kann und auch sollte. An dieser abschliessenden Stelle also ein Plädoyer für das Erlernen von Werkzeugen zur Bildbetrachtung. Wenn wir uns dieser Notwendigkeit bewusstwerden und dies in einem zweiten Schritt einfordern, wäre schon viel getan. Auch sollen genau solche Gespräche, wie jene im Literaturcafé zu diesen Prozessen anregen und ermutigen. Bei all den Nachrichten, laut denen uns die Apokalypse bevorsteht, ist es nur nachvollziehbar, dass wir zuweilen in ein ohnmächtiges Gefühl verfallen. Hier aber aktiv wieder herauszufinden – durch Dialog, Gespräche und mit gutem Kaffee aus dem Flusshaus: Dies ist das Ziel dieser Treffen.

Hoffnung – das ist eine Entscheidung, die wir jeden Tag von Neuem treffen können. (Vgl. Daisaku Ikeda)

Ganz bestimmt sind einige Gedanken an dieser Stelle nicht mit eingeflossen. Das aber wiederum inspiriert vielleicht den ein oder anderen von euch eigene Notizen zu machen oder aber erneut in den Austausch miteinander zu gehen. Zudem - und auch das wurde angemerkt - zuweilen ist es sinnvoller auch mal zu schweigen und nicht zu allem etwas zu sagen. Ganz getreu der Worte Peter Bichsel auf dem obigen Foto: "Ich hab gern Menschen, die nichts zu sagen haben und trotzdem schweigen." Zu sagen gäbe es natürlich noch sehr viel. Darum freue ich mich auf weitere tolle Diskussionsrunden mit euch.

Vielen Dank an Daniel Rihs für die guten Gespräche im Vorfeld und die Bereitstellung der Fotografien, insbesondere der Fotografie mit einem Zeugnis des Schweizer Schriftstellers Peter Bichsel, der erst kürzlich, am 15. März, verstarb.

Der nächste Termin ist der 18. Mai mit dem Thema: "Rich, Privileged, Unbothered – Über Privilegien und Gerechtigkeit".


*Gelesen wurde "Das dreizehnte Kapitel – in dem die Spielregeln nicht mehr gelten". Hier erfindet Sebi ein Spiel namens Marchenstreit – eine Anspielung auf den bekanntesten Marchenstreit zwischen Schwyz und dem Kloster Einsiedeln. Poli, Sebis Bruder, befindet irgendwann, dass die Spielregeln nicht mehr gültig sind und "ohne Regeln kann man nicht spielen, nur streiten." (115)

Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Das Literarische Café vom 23. März 2025
Images: © Daniel Rihs

Literatur:
Charles Lewinsky: Der Halbbart. Zürich: Diogenes, 2022.
Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman. Zürich: Diogenes, 2021.

Sekundärliteratur und weiterführendes:
Christoph Clases, Theo Weber: Vertrauen, in: Lexikon der Psychologie. Online unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/vertrauen/16374, zuletzt abgerufen am 24.03.2025.

Daisaku Ikeda. Hoffnung ist eine Entscheidung. Heft hg. von SGI-D. Mörfelden-Walldorf, 2021.

Jürgen Wertheimer (Hg. et.al): Vertrauen. Baden-Baden: Nomos, 2014.

Kaspar Michel: "Marchenstreit", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.08.2009. Online unter https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025760/2009-08-04/, zuletzt abgerufen am 24.03.2025.

"Spiel mit das Lied vom Toast", Erwartet unerwartet. Podcast-Folge 32, 22. April 2023. (auf Spotify)

https://www.magnumphotos.com/events/exhibitions/inside-cristina-de-middels-journey-to-the-center-of-the-world/ (Fotografie Cristina De Middel)

https://www.admin.ch/gov/de/start/bundesrat/geschichte-des-bundesrats/bundesbrief-von-1291.html (zum Bundesbrief)

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