„Utopie und Wahnsinn“

Ist Wahnsinn ein Ort? Wie wird Wahnsinn bewertet? Was hat Wahnsinn mit Freiheit zu tun? Wie viel mit Kontrolle und Macht?
Diese und weitere Fragen waren Gegenstand der Diskussion unseres Treffens am 16. Februar 2025, bei dem der Autor und Kulturwissenschaftler Alexander Kamber aus seinem neuesten Roman "Nachtblaue Blumen" (2024) vorlas. Dies ist der Versuch einer Nachbesprechung mit nachklingenden Gedanken.
Zum Roman
Die Hauptfigur des Romans, eine junge Cabaret-Tänzerin, wird, weil sie aufhört zu tanzen, um 1890 in die Nervenheilanstalt Salpêtrière Paris eingeliefert. Sie leidet angeblich an der Krankheit namens "Hysterie", die damals vor allem Frauen diagnostiziert wurde. In der Anstalt trifft sie auf andere Insassinnen, denen dasselbe Schicksal ergeht. Der leitende Nervenarzt veranstaltet regelmässig Vorführungen vor internationalem Publikum, um die Existenz der Krankheit zu beweisen. Schnell wird klar, dass es sich bei diesem Ort um einen Ort der Gewalt und des (Macht-) Missbrauchs handelt:
"Kurz nachdem ich hergebracht wurde, legte man mich auf eine blütenweiße Untersuchungsliege. Es fühlte sich an, als schwebe ich in der Luft. Der Doktor stellte mir unzählige Fragen. […] Dann vermaß er meinen Körper. Noch immer lag ich flach da, während er das Band anlegte und sich die Länge meiner Beine und Arme notierte, behutsam und zärtlich." (20)
"Es gibt auch eine Handvoll Männer, die sich um uns kümmern. Sie sind es, die eingesetzt werden, wenn eine von uns, ohne es zu wünschen, von A nach B getragen werden muss." (17)
Was hier auf subtile Art erzählt wird, lässt verschiedene Lesarten zu, die im Gespräch erörtert wurde. So scheint dem Vorgehen des Doktors eine gewisse Ambivalenz innezuwohnen. Ist der Doktor "behutsam und zärtlich" aus Respekt vor den Frauen oder gehört nicht gerade dies zu einem perfiden Machtspiel, um den Frauen ein wohliges, gar heimatliches Gefühl zu vermitteln, das es ihnen verbietet zu fliehen oder sich aufzulehnen? Immer wieder fällt der Begriff "Zuhause", der den Eindruck erwecken lässt, als wäre die Salpêtrière ein Ort der Sicherheit. Doch auch dieser Eindruck ist ambivalent, wenn nicht gar trügerisch: "Man hört viele Geschichten über diesen Ort, der unser Zuhause ist. Draußen nennt man ihn das Versailles des Schmerzes, und sobald man über ihn spricht, senkt man die Stimme." (29)
Trügerisch, gleichzeitig tröstend,* sind auch die Utopien, in die sich die Protagonistin mithilfe ihres Notizbuchs zu flüchten scheint:
"Ich notiere alles in dieses Notizbuch, das mir der Doktor nach meiner Ankunft gegeben hat. […] Ich versuche, mich so genau wie möglich an meine Begegnungen und Gespräche zu erinnern, damit ich alles schwarz auf weiß vor mir habe." (17)
Auch der Ort der Salpêtrière scheint etwas Tröstendes an sich zu haben; gleichzeitig auch etwas Beunruhigendes:**
"Die Salpêtrière ist eine eigene Stadt, ein Paris in Paris. Unser ganz eigenes Paris mit seinen Straßen, Gärten und Parkanlagen, seinem ganz eigenen Zugang zur rauschenden Seine. In der Mitte unserer Stadt steht sogar eine kleine Kirche. Ihr Geläut ist heller und fröhlicher als das all der anderen Kirchen. Ihr Klang macht einige von uns ganz nervös." (26)
An anderer Stelle heisst es:
"Ich liebe dieses riesige Schloss mit den unzähligen Korridoren und Stockwerken, geschichtet wie eine Torte, dieses alte Spukhaus, in dem die Wände seufzen und die Flure weinen, mein Zufluchtsort, dieser wunderschöne Palast der Kranken und Unheilbaren, den der Sonnenkönig einst für uns errichten ließ." (24)
Die Salpêtrière scheint utopisch und heterotopisch zugleich; ein Ort, der höchstens in der Vorstellung existieren dürfte, der jedoch auch ausserhalb der fiktiven Erzählung existiert und an dem bis Ende des 19. Jahrhunderts Experimente, vorwiegend an Frauen durchgeführt wurden. Ein Ort, der für die Hysterikerinnen und ein bestimmtes Publikum zugänglich, für andere unzugänglich war. Ein Unort also, an dem der Wahnsinn einen Ort bekommt?
Für Hysterikerinnen zugänglich meint hier eine ebensolche Ambivalenz wie jene, die vom Ort selbst ausgeht. Als die Protagonistin eingeliefert und untersucht wird, vermeidet sie zunächst dem Arzt zu sagen, dass es ihr gut gehe:
"Ich wollte ihm sagen, dass es mir gut geht, dass ich als Kranke hier sei, ohne krank zu sein. Doch aus Angst davor, Schwierigkeiten zu bekommen und schnurstracks zum Patron zurückgeschickt zu werden, entschied ich mich dazu, vorerst zu schweigen." (20)
Liegt der eigentliche Wahnsinn darin, aus einem System auszubrechen, in dem man Normen und Regeln unterworfen ist und sich dafür zu entscheiden einen gewaltvollen Ort gegen einen anderen einzutauschen? Liegt darin eine gewisse Freiheit, die sich Frauen genommen haben, die sich Frauen nehmen, um, innerhalb des Systems und immer noch von Machtmissbrauch betroffen, auszubrechen, wenngleich sie wissen, dass es eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera ist? Wie viel davon ist auch heute noch und wieder wahr?
Sind Wahnsinn und Freiheit Räume, die jenseits von Kontrolle und Macht lokalisierbar sind? Räume, die, wenn man sie denn als Potentiale erkennt, jene Verrückungen*** erlaubt, die eine Gesellschaft braucht, um Normen aufzubrechen, Ungerechtigkeiten und Gewalt zu beseitigen?
Diese Fragen können in einem grösseren Kontext betrachtet werden und lassen sich durchaus auf die aktuell weltweit rückschrittlichen Entwicklungen für Frauen übertragen – auch auf die weltweiten politischen Verrückungen nach rechts. Beides steht in engem Verhältnis zueinander und lässt erkennbar werden, dass wir das Patriarchat, wie so lange behauptet, längst nicht überwunden haben.
In einer Zeit, in der dieser Wahnsinn zurückgekehrt oder erneut an die Oberfläche gespült wurde und in der Hass und rechte Propaganda wieder salonfähig geworden sind, ist es vielleicht gar nicht so schlecht ein bisschen eigenen Wahnsinn walten zu lassen. Dieser Wahnsinn heisst Widerstand, dessen Notwendigkeit einige von uns vielleicht lange für utopisch gehalten haben mögen, der jedoch dringlicher denn je wird.
In diesem Sinne danke ich allen, die sich immer wieder rege an der Diskussion beteiligen und eigene Gedanken mit einbringen. Ich freue mich auf weitere Gesprächsrunden.
Im März sprechen wir, vielleicht ein wenig angelehnt an dieses Thema, über Vertrauen und Fake News in Literatur und Fotografie, dieses Mal mit Daniel Rihs als Gast. Alle Termine und Themen findet ihr wie immer hier.
Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Das Literarische Café vom 16. Februar 2024
Image: canva
* "Die Utopien trösten; wenn sie keinen realen Sitz haben, entfalten sie sich dennoch in einem wunderbaren und glatten Raum, sie öffnen Städte mit weiten Avenuen, wohlbepflanzte Gärten, leicht zugängliche Länder, selbst wenn ihr Zugang schimärisch ist." (Foucault 24)
** "Die Heterotopien beunruhigen, wahrscheinlich weil sie heimlich die Sprache unterminieren, weil sie verhindern, daß dies und das benannt wird" (ebd.)
*** "Die Verbindung von Wahnsinn und Räumlichkeit findet sich bereits im deutschen Ausdruck der Verrückung wieder, der die Verschiebung von einem Ort an einen anderen kennzeichnet." (Jöhnk, in: Literatur und Wahnsinn, 127)
Primärliteratur:
Alexander Kamber: Nachtblaue Blumen. Zürich: Limmat Verlag, 2024.
Sekundärliteratur: (zum vertiefen)
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, in: Die Hauptwerke. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 3. Auflage, 2013.
Helene von Bogen / Theresa Mayer (Hg. et al.): Literatur und Wahnsinn. Berlin: Frank & Timme GmbH, 2015.
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