„Herkunft & Identität“

In diesem Monat widmete sich Das Literarische Café dem Thema Herkunft & Identität im Kontext der Kriege in der Ukraine sowie in Gaza und Nahost.
Die im Vorfeld angekündigte Beschränkung auf diese beiden, bereits in sich sehr grossen Themenfelder, barg Schwierigkeiten. Einerseits, da insbesondere der Konflikt zwischen Israel und Palästina sehr stark emotional aufgeladen ist. Andererseits, weil eine gewisse Zurückhaltung herrscht, sich diesem Thema zu widmen. Die bewusste Entscheidung, sich mithilfe von lyrischen Stimmen der ukrainischen Schriftstellerin Lyuba Yakimchuk (*1985) und des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch (1941-2008) trotzdem diesen beiden Krisen zu widmen, hat dieser literarischen Gesprächsrunde keineswegs einen Abbruch getan. Im Gegenteil. Es ist eine anregende Diskussion entstanden, die nah an und mit den drei mitgebrachten Texten („Eyebrows“, „Funeral Services“ und „In Jerusalem“) war. Auch dieses Mal kamen immer wieder Eindrücke und eigene, sehr individuelle Überlegungen zu den Begriffen Heimat, Herkunft und Identität hinzu, die als abschweifend empfunden werden konnten, die aber andererseits gerade bei diesem Thema kaum vermeidbar waren und das Gespräch zudem eher befruchteten. Genau dies ist das Ziel dieses Literaturcafés – die Beschäftigung mit einem Thema anhand eines oder mehrerer Texte oder Passagen, dabei nah am Text und trotzdem offen für eigene Gedanken.
Wenn wir zunächst über den Begriff „Herkunft“ nachdenken, kommt immer auch der Begriff der „Heimat“ ins Spiel. „Heimat“, so der Schriftsteller Reinhard Jirgl (*1953) in einem Gespräch im Dlf „[hat] darüber [über Herkunft] hinaus etwas anderes noch: […] es ist der in meinem Sinne frühest prägende Erfahrungsraum einer Person. Und das ist nicht veräußerbar, und das ist eigentlich auch sein einzig wirkliches Eigentum. Und beides zusammen, Herkunft und Heimat, bestimmen dann des Menschen Denk- und Handlungsweisen oftmals über ein ganzes Leben hinweg.“
Diese Annahme kann man durchaus hinterfragen, da sie von einem stark territorial gefassten Heimatbegriff ausgeht. Heimat aber, so fragt Michael Köhler als Gesprächspartner Jirgls: „ist konkret und abstrakt zugleich?“ Allerdings, so löst Jirgl später im Gespräch auf, scheint gerade dieser erste Erfahrungsraum „eine unbedingte Voraussetzung“ zu sein. „Ohne diese Arbeit […] ist […] die Weiterentwicklung, die Öffnung dieses Begriffs [Heimat] nicht möglich, oder sie wird lapidar.“ Auch Vertreibung gehöre zu diesem Thema, so Jirgl.
Auch der Begriff der „Identität“ kann auf vielfältige Weise verstanden und diskutiert werden. Im Kontext von Krieg, Vertreibung und Exil, so scheint mir, ist die unmittelbare Verknüpfung mit den Begriffen Heimat und Herkunft entscheidend. Die Erfahrung des Exils, der Diaspora, also der Zerstreuung von Bevölkerungsgruppen über verschiedene Teile der Welt, ist, um auf die beiden genannten Konflikte zurückzukommen, dabei Teil der palästinensischen wie auch der ukrainischen Identität.
Das Gedicht „In Jerusalem“ von Mahmud Darwish beschreibt eine erhabene Erfahrung mit und in der Stadt Jerusalem, die sowohl für Muslime, als auch für Juden und Christen heilig ist. Es ist die Erfahrung des Todes, der dann doch wieder nicht eintritt: „Na und?, schrie plötzlich eine Soldatin: / Du schon wieder? Hab ich dich nicht getötet? / Und ich sprach: Du hast mich getötet – aber ich vergaß / Genau wie du / Zu sterben“. Selbst das Sterben ist unmöglich geworden in diesem Konflikt. Selbst der Tod bietet keine Erlösung, keine Ruhe und damit auch keine Heimat. Fortwährend, seit der Gründung des Staates Israels 1948, und der unmittelbar daraus resultierenden Nakba – arabisch für „Katastrophe“, die die Flucht und Vertreibung von ca. 700.000 Palästinenser:innen (Quelle: Bildungsstätte Anne Frank) aus dem heutigen Staatsgebiet Israels beschreibt, hält dieser Konflikt an und auch in diesem gegenwärtigen Krieg, nimmt das gegenseitige Töten kein Ende.
Mit Blick auf die Ukraine: auch hier ist ein Ende des Terrors nicht in Sicht. Die beiden besprochenen Gedichte sind im Kontext der Maidan-Revolution 2013/2014 entstanden. In „Eyebrows“ (2014) von Lyuba Yakimchuk wird nicht, wie bei Darwisch, über Unmöglichkeit des Sterbens gesprochen, vielmehr über die Verweigerung der Trauer und des Loslassens. „no-no, I won`t put on a black dress / […] I`ll be wearing nine white skirts / One beneath the other / […] no-no, I won`t put on a black dress / I`ll put on your black eyebrows / on me“. Die Verweigerung des Tragens schwarzer Kleidung, insbesondere aber das Tragen mehrerer (neun) Schichten sowie das Übermalen der eigenen Augenbrauen, mit jenen der Verstorbenen deutet darauf hin, dass auch der Tod verweigert wird. Insgesamt hat das Gedicht „Eyebrows“ etwas Theatralisches, Maskenhaftes, Inszeniertes. Es ist wie eine Art Performance der Verweigerung der Einsicht, respektive Möglichkeit, des Todes.
Ein weiteres Gedicht („Funeral Services“, 2015) von Lyuba Yakimchuk verdeutlicht die Absurdität des Terrors. Hier ist die Rede von einem Terroristen, der sich hinter Masken versteckt, die, will man von „wahrer Identität“ in einem spirituellen Sinn sprechen, diese überzeichnen und der sich letztlich doch nur sein eigenes Grab schaufelt: „this terrorist looks like a bush / he trembles in the wind and sheds his leaves / but breath escapes from his mouth – / that`s quite a disadvantage / for someone who wants to be a bush.“ In der letzten Strophe heisst es dann, als der Terrorist bereits tot ist: „he`d be so perfect / if you could only convince yourself that / he`s just a terrorist, not a human being.” Der perfekte Terrorist ist der tote Terrorist. Gleichzeitig erkennt die lyrische Stimme, dass auch der Terrorist ein Mensch war. Ist Terrorist-Sein also auch „nur“ eine Identifikation, die mit der „wahren Identität“ – und wieder ausgehend von der Prämisse, dass es so etwas wie „wahre Identität“ gibt – nichts zu tun hat? An dieser Stelle, und dies nur als kleine Anmerkung, würde sich ein Blick auf Bernhard Waldenfels Theorie der Einverleibung des „Stachels des Fremden“ lohnen, den man, laut Waldenfels, immer schon in sich trägt, da das Eigene nur in Relation mit dem Fremden erfahrbar wird oder vielmehr mit diesem verschmolzen ist. (Vgl. Waldenfels 65) Weiterhin könnte eine Untersuchung in Verbindung mit Elias Canettis Befehlstheorie - die Einverleibung des Befehls (z.B. im Militär), der sich wie ein Stachel in das eigene Fleisch bohrt und der eigenen Identität, wenn man so will, zugeführt wird - fruchtbar sein. (Vgl. Canetti, Kap. Der Befehl, 355) Allerdings wurde dies im Gespräch nicht angesprochen und dient hier nur als Anregung/weiterführende Lektüreempfehlungen für philosophisch Interessierte.
Wird man also als Terrorist geboren? Nein. Aber genauso wenig wird man als Vater, als Mutter, als Frau, als Mann, als Schüler, als Lehrer, oder als was auch immer geboren. Eine interessante These, die während des Gesprächs aufkam war: „Identität macht man, man hat sie nicht.“ Das bedeutet: wir werden bzw. machen unsere Identität, respektive Identitäten – durch Sozialisierung, (familiäre) Umgebung, Bekanntschaften, berufliche Laufbahn etc. – und mit diesen Identitäten identifizieren wir uns dann, fühlen uns zugehörig, vielleicht sogar „heimisch“. Was aber, wenn diese Identifikationen, diese Rollen wegfallen – die Rolle als Mutter, als Vater, als berufstätige Frau oder berufstätiger Mann, als Student oder Studentin – oder eben auch als Soldat? Wer sind wir ohne die Identifikation mit diesen Identitäten?
Sicher liesse sich noch weiter über die Begriffe Heimat, Herkunft und Identität debattieren. Nun denke ich aber, dass genau diese letzte Frage genug Anregung gibt über Identität nachzudenken. Wie immer gab es auch in diesem Gespräch keine einheitliche und schon gar keine einfache Lösung. Mir scheint zudem, dass nicht die Antworten das Entscheidende sind. Viel wichtiger sind die richtigen Fragen. Auch das wurde in diesem Gespräch erneut deutlich: es gibt eine durchaus von Diversität geprägte Herangehensweise – mal spirituell/religiös, mal wissenschaftlich, mal stark geprägt von eigenen Erfahrungen. Jede Herangehensweise wirft für sich vielfältige Fragen auf. Gerade davon lebt Das.Literarische.Café – von einer Kultur diverser und vielfältiger Meinungen und Herangehensweisen. Perspektivisch werden wir uns in Zukunft noch näher literarischen Texten widmen, um ausgehend davon die Diskussion anzuregen.
Beim nächsten Mal werden wir allerdings nicht allein über Literatur sprechen, sondern auch über die Fotografie. Zusammen mit dem Fotografen Daniel Rihs und mir sprechen wir über: Rebellische Kunst – Vertrauen & Fake News in Literatur und Fotografie. Ich freue mich sehr und bin wie immer gespannt auf die Diskussion.
Das nächste Treffen findet am 24. November statt.
Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Das Literarische Café vom 20. Oktober 2024
Image: Expanalog, unsplash
Literatur:
Canetti, Elias: Masse und Macht. Frankfurt a. M., Fischer: 2014, 33. Auflage.
Darwisch, Mahmud: In Jersualem. In: Lyrikline, Online unter https://www.lyrikline.org/fr/poemes/3268?showmodal=de, zuletzt abgerufen am 21.10.2024.
Jirgl, Reinhard: Herkunft und Heimat. In: Dlf, Reinhard Jirgl im Gespräch mit Michael Köhler, 06.08.2016. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/herkunft-und-heimat-heimatgefuehl-ist-konkret-an-gegenden-100.html, zuletzt abgerufen am 21.10.2024.
Keupp, Heiner: Identität. In: Lexikon der Psychologie. Online unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/identitaet/6968, zuletzt abgerufen am 21.10.2024.
Maksymchuk, Oksana; Max Rosochinsky: Words for War. New Poems from Ukraine. Academic Studies Press, 2017. Online unter https://www.wordsforwar.com/, zuletzt abgerufen am 21.10.2024.
Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990.
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