„Hedonismus in Kriegszeiten“

Das letzte Treffen in diesem Jahr widmete sich dem Thema "Hedonismus in Kriegszeiten" – wie immer ist dies keine reine Zusammenfassung, sondern ein Rückblick gespickt mit Literaturhinweisen und weiterführenden Gedanken. 

Schaut man auf die derzeitigen Kriege und Krisen in Europa und weltweit, kann man schnell zu der Erkenntnis kommen, dass ein hedonistischer Lebensstil nicht mehr angebracht sei. Muss einem bei "spassigen" Aktivitäten unbehaglich werden oder ist im Gegenteil Hedonismus eine legitime Flucht vor der Wirklichkeit?

Um diese Fragen diskutieren zu können, haben wir uns den Begriff einmal genauer angeschaut. Der Begriff "Hedonismus" kommt aus dem griechischen (hedone) und bedeutet Lust oder Vergnügen. Psychologisch betrachtet ist Hedonismus "die Auffassung, dass Personen so handeln, dass sie das Auftreten belohnender oder angenehmer Bedingungen oder von Gewinnen maximieren und das Auftreten nicht belohnender oder unangenehmer Bedingungen oder von Verlusten minimieren." (Dorsch Lexikon)

Der psychologische Hedonismus untersucht Verhaltensdeterminanten während es im philosophischen oder ethischen Hedonismus um die Bewertung des Verhaltens geht. Laut Dorsch Lexikon gibt es drei Varianten des psychologischen Hedonismus: den der Vergangenheit, den der Gegenwart und den der Zukunft. Variante 2 – der psychologische Hedonismus der Gegenwart – scheint am ehesten dem philosophischen Hedonismus zu entsprechen, jenem Hedonismus bei dem es darum geht nach dem Prinzip "Carpe Diem" jeden Tag möglichst voll auszukosten. Es geht um Genuss ohne Rücksicht auf das Morgen.

Denken wir an Krisen- oder gar (Vor-)Kriegszeiten lässt sich argumentieren, dass wir gerade in jenen zu einem Hedonismus der Gegenwart neigen – möglicherweise auch aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus und um vor der Wirklichkeit ein Stück weit zu flüchten.

In Erich Kästners 1931 erschienen Roman "Fabian. Die Geschichte eines Moralisten", der am Vorabend von Hitlers Machtergreifung spielt, ist diese Tendenz erkennbar: "Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende seelische Depression, die Sucht sich zu betäuben, die Aktivität bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise." (Vorwort des Verfassers, zur Neuauflage dieses Buches, 10)

Auch Fabian – der Protagonist– gerät in diesen Strudel. Als Moralist und Beobachter sieht er sich plötzlich konfrontiert mit dem Berliner Nachtleben. Er bleibt in gewisser Weise Beobachter ist aber trotzdem mittendrin:

"Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen. Ein Flugzeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. […] Dann holte er von der steifen Krempe eines fremden Hutes einen Taler herunter. «Besucht die Exotikbar, Pension Condor im gleichen Hause», stand darauf. " (12f.)

Fabian macht sich aus Neugierde auf den Weg in ein Etablissement, welches er von "einem gewissen Herrn Bertuch empfohlen" (13) bekam, bleibt zunächst Beobachter, lässt sich nach einer Weile aber dennoch auf das Nachtleben ein.

"Fabian war zweiunddreißig Jahre alt und hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser Abend begann ihn zu reizen. Er trank den dritten Kognak und rieb sich die Hände. Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie untersuchen wollte, musste sie haben. Nur während man sie besaß, konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt. " (19f.)

An dieser Stelle gewinnt man den Eindruck, dass Fabian sich selbst als Studienobjekt ansieht und sich zu diesem Zweck den hedonistischen Kreisen aussetzt, die gleichwohl einen gewissen Reiz auf ihn ausüben. Fabian aber bleibt Moralist – und geht unter. Das aber, so Kästner ist "sein angestammter Platz" - "der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch!"

Warum habe ich dieses Buch und vor allem dieses Thema ausgewählt? Mir scheint, dass wir in einer Zeit leben in der es bemerkenswerte, vor allem aber erschreckende Parallelen zu den 1930er Jahren gibt – insbesondere was die gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung anbelangt. Philipp Ruch bringt es in seinem Buch bereits mit dem Titel auf den Punkt: "Es ist fünf vor 1933". Mit Gustav Stresemann, 1923 Reichskanzler und späterer Außenminister gesprochen, schreibt Ruch: "Der Geist der Zeit gehe dahin, «dass das Volk überhaupt keine Einheit mehr ist, dass es sich gegenseitig nur noch verachtet oder sich gegenseitig anspuckt, anstatt gegenseitig miteinander zu leben… Ich habe das Empfinden, dass wir, vermögende Leute und andere, geradezu hineinleben in den Tag, ohne uns irgendwie klarzumachen, wie diese ganzen Dinge einmal enden sollen.»" Und Ruch weiter: "Falls Sie das Gefühl beschleicht, Stresemann kämpfe mit denselben Problemen wie wir heute, dann liegt das daran, dass er mit denselben Problemen kämpfte wie wir heute." (12)

Wie also können wir in einer solchen Zeit überhaupt noch Spass haben oder es dulden, wenn andere Spass haben, respektive einen ausschweifenden Lebensstil führen, auch angesichts der Klimakrise, die ebenso spaltet wie das Thema Ukraine oder Nahostpolitik, um nur zwei weitere Themen zu nennen. Hinzu kommt: Der Kalte Krieg ist längst wieder heiss – davor kann man die Augen verschliessen oder sich mit wachem und klarem Verstand fragen welche Rolle jeder Einzelne spielt. Letztlich steht auch die Frage dahinter in welcher Welt wir leben wollen, worauf wir (gerade Industrienationen und reiche Länder wie die Schweiz oder Deutschland) verzichten können und müssen, wenn wir Frieden und ein gesichertes Europa wahren, respektive vollumfänglich wiederherstellen wollen. Damit ist nicht gemeint, dass wir mit der moralischen Keule aufeinander losgehen sollen - im Gegenteil: Wir müssen Verständnis füreinander aufbringen, insbesondere auch ein Verständnis für die eigene Verantwortung. In meinen Augen fängt dies beim Dialog an. Mein Wahlspruch lautet deshalb: Dialog statt Hass und Hetze. Dennoch! Und das ist, wie vieles andere auch, eine Entscheidung, die jeder treffen kann.

Auch das ist der Sinn dieses Literaturcafés – einen Raum zu schaffen, der Dialog ermöglicht und gleichzeitig andere dazu ermutigt eigene Räume zu schaffen. Wenn damit ein kleiner Kreis erreicht ist, so ist dies bereits ein Schritt. Ich danke allen, die mir das Vertrauen schenken und immer wieder dieser Runde beiwohnen und rege mitdiskutieren. Genau davon lebt Das Literarische Café.

Im nächsten Jahr geht es weiter mit spannenden Themen. Termine und Themen findet ihr wie immer hier.

Ich freue mich auf weitere wertvolle Gespräche und schöne Begegnungen in 2025.

Text: © Anne Bendel, Nachbesprechung Das Literarische Café vom 15. Dezember 2024
Image: KI, canva

Literatur:
Dorsch Lexikon: Hedonismus. Online unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/hedonismus-psychologischer, zuletzt abgerufen am 17.12.2024.
Eckelmann, Susanne: Eintrag zur Person Gustav Stresemann, in: LeMO. Lebendiges Museum Online. Online unter https://www.dhm.de/lemo/biografie/gustav-stresemann, zuletzt abgerufen am 17.12.2024.
Kästner, Erich: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten. München: dtv, 4. Auflage, 1990. (Erstveröffentlichung 1931).
Ruch, Philipp: Es ist fünf vor 1933. Was die AfD vorhat und wie wir sie stoppen. München: Ludwig Verlag, 3. Auflage, 2024.

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