„Exil und Heimat“
Gedichte von Else Lasker-Schüler und Mascha Kaléko

Was bedeutet es ins Exil gehen zu müssen, heimatlos zu sein, keinen Ort zu finden, an dem man sich wirklich zugehörig fühlen kann? Kann man Heimat in sich finden, wenn einem dieser "frühest prägende Erfahrungsraum einer Person" genommen wird, wie der Schriftsteller Reinhard Jirgl, der den Begriff "Heimat" eher konkret fasst, in einem Interview im Dlf sagt? Wird der Begriff "Heimat" dann vielleicht fluider, offener, gar utopisch?
Das.Literarische.Café widmete sich in dem ersten Treffen in 2025 dem Thema "Exil und Heimat". Dabei wurde eine Auswahl an Gedichten zweier jüdischer Dichterinnen besprochen, deren Stil unterschiedlicher kaum sein könnte, die jedoch ein gemeinsames Schicksal teilten. Beide mussten ins Exil gehen und verloren ihre Heimat. In diesem Jahr dürfen wir an diese beiden Dichterinnen in besonderer Weise erinnern: Else Lasker-Schüler (1869-1945) und Mascha Kaléko (1907-1975), deren Todestag sich in diesem Jahr zum 80., respektive 50., mal jährt.
Diese kurze Nachbesprechung des Treffens vom 19. Januar 2025 möchte, gespickt mit weiterführenden Gedanken, an diesen schönen Anlass erinnern, zu dem Martin Dreyfus als Gast im Literaturcafé einen Beitrag zu Mascha Kaléko vorbereitet hatte. Zudem soll dies eine Anregung sein tiefer in die Texte dieser beiden wunderbaren Dichterinnen einzutauchen.
Wer findet Heimat in sich? Und was ist Exil?
Im Gespräch wurde u.a. deutlich, dass der territorial gefasste Heimatbegriff, wie ihn Reinhard Jirgl fasst, vor allem dann gilt, wenn man die Heimat – d.h. dort wo man geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen ist – nie verlassen musste. Die Heimat in sich zu finden, wird dann nicht zu einer Notwendigkeit, sondern allenfalls zu einer Option.
Die Heimat verlassen müssen. Das ist es, was das Exil auszumachen scheint. Exil, so hielten wir zu Beginn fest, ist fast immer "unfreiwillig und erzwungen, während bei der Emigration der Betreffende sich letztlich selbst dafür entscheidet, aus einer Gesellschaft auszutreten. Zudem bedeutet Emigration eine Auswanderung ohne Absicht, zukünftig in die Heimat zurückzukehren.", so Theo Stamm. (zit. nach Lützeler 8) Migration gilt als "Oberbegriff für die unterschiedlichsten Wanderbewegungen menschlicher Gruppen, und das Exil ist eine seiner Sonderformen." (3)
Else Lasker-Schüler konnte nicht wieder zurück. Weder nach Deutschland noch in die Schweiz, in die sie im April 1933 nach tätlichen Angriffen floh. 1938 wurde ihr die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und nachdem sie 1939 gerade ihre dritte Reise ins Hebräerland, wie sie es nannte, antrat, brach der Krieg aus und ihr wurde die Rückreise in die Schweiz verwehrt. Am 22. Januar 1945 starb sie verarmt in Jerusalem.
Ihr Gedicht "Die Verscheuchte" (in einer früheren Fassung "Das Lied der Emigrantin") behandelt die Einsamkeit, das Zurückgelassen-Sein der Exilierten, ja auch die Verzweiflung über die Ausweglosigkeit ihrer Situation: "Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt –?" Es behandelt aber auch die einstmalige Verbundenheit derer, die ins Exil gingen und derer, die geblieben sind: "Bald haben Tränen alle Himmel weggespült / An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestillt, / Auch du und ich. // Und deine Lippe, die der meinen glich. / Ist wie ein Pfeil nun blind auf mich gezielt." Diese Zeilen spielen auf die enge Freundschaft und Liebesbeziehung zwischen Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn an, der nach der Machtübernahme Hitlers den exilierten Schriftstellern das moralische Recht absprach zu den Vorgängen in Deutschland Stellung zu beziehen. (Vgl. Skrodzki) Dies beklagt Else Lasker-Schüler hier. Sie trauert zudem um die verlorene Heimat und die verlorene Liebe und Freundschaft: "Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild / Durch bleiche Zeiten träumend – ja, ich liebte dich."
Trauer ist auch ein Motiv in ihrem wohl bekanntesten Gedicht "Mein blaues Klavier" (1937). Hierin heisst es: "Ich habe zu Hause ein blaues Klavier / Und kenne doch keine Note. / […] Zerbrochen ist die Klaviatür. / Ich beweine die blaue Tote." Das Klavier steht symbolisch für die Vernichtung der Kunst durch die Nazis, aber auch, wie mir scheint, für die des Ichs der Heimat, das gestorben zu sein scheint. Lässt sich das Ich zurückgewinnen, wenn es in der Heimat zurückgelassen werden musste? Else Lasker-Schüler hat dies zweifelsohne versucht, in dem sie sich immer wieder in ihren Texten, aber auch durch ihre Erscheinung inszenierte und verkleidete. "Das Leben kann nur verkleidet ertragen werden und die Liebe sowieso.", wie Eva Demski im Nachwort zu der Ausgabe "Dein Herz ist wie die Nacht so hell. Liebesgedichte" schreibt. Auch das Exil, der Verlust der Heimat, liess sich für Else Lasker-Schüler wohl nur verkleidet ertragen.
Dass Else Lasker-Schülers Schicksal auch heute noch bewegt, zeigt der im vergangenen Jahr erschienene autobiographische Roman "Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist" von Nadine Olonetzky. Nicht nur ist dies die Geschichte ihres Vaters, der vor den Nazis in die Schweiz fliehen konnte und ihres Grossvaters, der im KZ ermordet wurde. Es ist auch die Geschichte des Umgangs mit Geflüchteten und jenen, denen Unrecht angetan wurde und wird – auch heute noch. Ganz nebenbei ist es eine Abhandlung der Fotografie, mit ganz eigenen, teils philosophischen Gedanken hierzu – dies sei jedoch nur am Rande erwähnt. Gerade zum Ende hin nimmt Nadine Olonetzky die Situation von Geflüchteten insgesamt in den Blick und damit auch die "humanitäre Tradition der Schweiz, Verfolgten Schutz zu gewähren." (333) In einer Passage über den Umgang mit Geflüchteten in der Schweiz schreibt Nadine Olonetzky auch über Else Lasker-Schüler: "‛Diese Tradition ist lang, facettenreich und nicht ohne Risse’, steht in einem Bericht des Bundesamts für Flüchtlinge. Es geht darin um "Prominente im Schweizer Exil", um Thomas Mann, Bertolt Brecht oder Robert Musil. Warum geht es nicht auch um Else Lasker-Schüler?" (333f.) Das zumindest wäre im Sinne der Aufarbeitung des Umgangs mit Geflüchteten in der Schweiz während des zweiten Weltkriegs wünschenswert.
Auch Mascha Kaléko, um zur zweiten Dichterin, die wir besprochen haben, zu kommen, musste mehrfach fliehen. 1907 in Chrzanow (ehemals Galizien) geboren, floh sie bereits mit sieben Jahren nach Westen. Der erste Weltkrieg war gerade ausgebrochen und viele Juden verliessen ihre Heimat aus Angst vor Pogromen. Zunächst fand die Familie Schutz in Frankfurt am Main, später in Marburg, dann in Berlin. Berlin schien ihr zu einer Heimat geworden zu sein. (Vgl. Zoch-Westphal/Prokop) "Mein Heimweh heisst Savignyplatz", schreibt sie in ihrem Gedicht "Minetta Street". In Berlin lernte sie auch Else Lasker-Schüler kennen, die sie, zusammen mit anderen Dichtern, Malern und Schauspielern wie Kurt Tucholsky, Erich Kästner oder Walter Mehring immer wieder im "Romanischen Café" traf. Anders als Else Lasker-Schüler emigrierte sie erst 1938, jedoch nicht in die Schweiz, sondern nach Amerika: "Fast hätte Mascha Kaléko den Absprung ins Exil verpasst, weil sie sich von Berlin nicht trennen mochte." (Zoch-Westphal/Prokop) 1956 kam sie zurück, fand jedoch ein ganz anderes Berlin vor, als jenes, dass sie schweren Herzens verlassen hatte. 1960 wanderte sie schliesslich nach Israel aus.
In ihren Gedichten wird deutlich, was wir auch im Gespräch festhielten und was aus der eingangs zitierten Definition des Begriffs "Exil" hervorgeht: Das Exil ist nicht freiwillig und Krieg, wenn man ihn einmal erlebt hat, ist niemals vorbei. So heisst es in "Interview mit mir selbst":
"Inzwischen bin ich viel zu viel gereist, / zu Bahn zu Schiff, bis über den Atlantik. / Doch was mich trieb, war nicht Entdeckergeist, / und was ich suchte keineswegs Romantik. […] // Grad wie das Flüchtlingskind beim Rektor May! / Wenn ich mir dies Dacapo so betrachte… / Er denkt, was ich in seinem Alter dachte: Dass, wenn die Kriege aus sind, Friede sei."
Diese Einsicht muss uns auch heute noch eine Mahnung sein. Jeder Krieg, der einmal begonnen hat, hinterlässt Spuren. Bei jenen, die fliehen mussten und müssen, auch bei jenen, die bleiben und geblieben sind.
Als Mahnung liest sich auch das Gedicht "In dieser Zeit", das mit den folgenden Zeilen beginnt: "Wir haben keine andre Zeit als diese, / Die uns betrügt mit halbgefüllter Schale. / Wir müssen trinken, denn zum zweiten Male / Füllt sie sich nicht. – Vor unserm Paradiese" Und in der letzten Strophe: "Verstohlen träumen wir von Wald und Wiese / Und dem uns zugeworfenen Brocken Glück … / Kein Morgen bringt das Heute uns zurück, / Wir haben keine andre Zeit als diese."
Wenngleich diese Zeilen auf den ersten Blick hoffnungslos stimmen, scheint mir hierin eine Botschaft zu liegen, die durchaus mahnend ist. Wir haben keine andre Zeit als diese. Sie mag grau und dunkel sein, aber wir leben in dieser Zeit, die nur wir im Stande sind zum Besseren zu wenden. Dafür aber dürfen wir nicht schweigen. Mascha Kaléko lässt sich die Worte selbst dann nicht nehmen, wenn sie eigentlich keine findet und betitelt dies als "Mein schönstes Gedicht": "Mein schönstes Gedicht? / Ich schrieb es nicht. / Aus tiefsten Tiefen stieg es. / Ich schwieg es." Ihr durchaus humorvoller Umgang mit der Sprache scheint mir jene Verkleidung zu sein, die Else Lasker-Schüler mit ihren Selbstinszenierungen als "Prinz Jussuf" oder "Prinz von Theben" als Bewältigungsstrategie für sich zu nutzen wusste.
Aber kann man das Exil, kann man die Entwurzelung wirklich bewältigen? Den Versuch zumindest haben beide unternommen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Sowohl Else Lasker-Schüler als auch Mascha Kaléko hatten neben den Erfahrungen im und mit dem Exil jedoch auch noch mit anderen Schicksalsschlägen zu kämpfen. Insbesondere mit der Trauer um ihre verlorenen Söhne, die beide – Else Lasker-Schülers Sohn starb mit Ende 20, Mascha Kalékos mit 31 Jahren – schon in jungen Jahren starben. In "Memento" schreibt Mascha Kaléko: "Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur; / doch mit dem Tod der anderen muss man leben."
Die Erinnerung an diese beiden verstorbenen Dichterinnen aufrechtzuerhalten, scheint mir in diesem Jahr nicht nur wichtig, sondern auch dringlich. Else Lasker-Schüler insbesondere darum, weil sie sich stetig für eine Verständigung zwischen den Völkern einsetzte – insbesondere in ihrem Hauptwerk Hebräerland, welches wir zwar nicht besprochen haben, das sich aber dennoch lohnt (erneut) zu lesen. Mascha Kaléko deshalb, weil ihre Gedichte so viel mehr sind als schlichte "Gebrauchslyrik". Sie sind wichtige Zeugnisse einer exilierten Dichterin, die dabei (leider) scheinbar zeitlose Mahnungen ausspricht. Insofern ist dies auch ein Plädoyer für eine erste oder erneute Lektüre dieser Dichterinnen.
Im Februar geht es dann weiter mit einem Gespräch zum Thema "Utopie und Wahnsinn in der Literatur". Alexander Kamber ist diesmal zu Gast und liest aus seinem Roman "Nachtblaue Blumen". Neue Termine findet ihr hier.
Text und image: © Anne Bendel, Nachbesprechung Das Literarische Café vom 19. Januar 2025
Image: NLI Jerusalem, Oktober 2013 (Installation Ofri Cnanni mit Gedichten von Else Lasker-Schüler)
Primärliteratur:
Gedichte ELS: „Die Verscheuchte“, „Mein blaues Klavier“
Gedichte Mascha Kaléko: „Interview mit mir selbst“, „Temporäres Testament“, „Minetta Street“, „Mein schönstes Gedicht“, „In dieser Zeit“
Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm. München: dtv, 23. Auflage, 2003.
Else Lasker-Schüler: Das Hebräerland. München: dtv, 1981.
Else Lasker-Schüler: Dein Herz ist wie die Nacht so hell. Hrsg. von Eva Demski. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 2002.
Mascha Kaleko: Die paar leuchtenden Jahre. Herausgegeben, eingeleitet und mit der Biographie „Aus den sechs Leben der Mascha Kaleko“ von Gisela Zoch-Westphal. München: dtv, 2003.
Sekundärliteratur: (zum Vertiefen)
Jirgl, Reinhard: Herkunft und Heimat. In: Dlf, Reinhard Jirgl im Gespräch mit Michael Köhler, 06.08.2016. Online unter https://www.deutschlandfunk.de/herkunft-und-heimat-heimatgefuehl-ist-konkret-an-gegenden-100.html, zuletzt abgerufen am 21.10.2024.
Lützeler, Paul Michael: Migration und Exil in Geschichte, Mythos und Literatur. In: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Berlin/Boston: Walter de Gruyter, 2013.
Olonetzky, Nadine: Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist. Frankfurt a. Main: Fischer, 2024.
Skrodzki, Karl Jürgen: Else Lasker-Schüler: Die Verscheuchte. Online unter https://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_020.htm, [22.01.2025].
Zoch-Westphal, Gisela / Eva-Maria Prokop: Mascha Kaléko. Leben. Online unter https://www.maschakaleko.com/leben, [23.01.2025].
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