Das Archiv als Refugium

Was bedeutet es das Archiv als Refugium - als Ort der Zuflucht - zu denken? Ein Ort, der Schutz und Sicherheit bietet und der vor Gefahren von Aussen abgeschirmt zu sein scheint? Was ist das für ein Ort und kann dies nicht auch bedeuten, dass Erfahrungsmöglichkeiten – die Benutzung durch Forscher:innen beispielsweise – eingeschränkt oder gar unerwünscht sein können?
Image: Tim Oun, unsplash
Aus archivpraktischer Sicht im Sinne der Aufbewahrung und Erhaltung von Archivgut ist zunächst folgendes zu sagen. Das Archiv bietet zunächst einen Schutz in dem es Dokumente* sicher verwahrt. In Schutzhüllen verpackt und bei klimatisch optimierten Bedingungen werden Dokumente beispielsweise vor Schimmelbefall, Alterungsprozessen oder anderen Einflüssen geschützt. Das Archiv ist der Ort, der augenscheinlich am besten für die langfristige Aufbewahrung von Dokumenten geeignet ist, da klimatische, räumliche und architektonische Bedingungen für eine langfristige Lagerung optimal scheinen. So viel zur Theorie. Praktisch gesehen ist auch das Archiv nicht gänzlich vor Gefahren geschützt. Es kann zu Bränden, Wasserschäden oder sogar zu Einstürzen kommen, wie der Einsturz des Historischen Archivs Köln im Frühjahr 2009 gezeigt hat.** Auch sind nicht alle Archive optimal ausgestattet. Gerade bei kleineren Archiven, Vereinen oder Stiftungen, die Sammlungen betreuen, ist dies zu beobachten. Archive stehen dabei immer wieder vor finanziellen Hürden und Herausforderungen, die einen optimalen Umgang mit Archivgut erschweren können. Das Archiv bietet dennoch einen Schutz und – viel entscheidender – die Möglichkeit der Erfahrbarkeit von Dokumenten. Dabei aber – und dies ist die These dieses Artikels – verlässt das Archiv den Status des Refugiums, des Ortes der Zuflucht. Das Archiv wird zu einem Raum, in dem Erfahrungen möglich werden.***

Das Archiv als Refugium zu denken, meint hier also nicht allein die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufbewahrung und des Schutzes des Archivmaterials vor Gefahren in den Blick zu nehmen – obwohl auch dieser Aspekt virulent ist. Vielmehr geht es mir um die Bedingungen und Möglichkeiten der Erfahrbarkeit von Archiven und Archivmaterial. Kann das Archiv auch in diesem Sinne ein Refugium bilden – als Schutz vor unerwünschter Benutzung und Erfahrbarkeit?

Hierzu müssen wir zunächst einmal klären, was das Archiv ist oder sein kann.

Derrida schreibt in seinem Aufsatz Dem Archiv verschrieben: „Es [Das Archiv] hat Gesetzeskraft, die Kraft eines Gesetzes [nómos], welches das des Hauses (oîkos) ist, des Hauses als Ort, fester Wohnort, Familie, Abstammungslinie oder Institution.“ (36) Das Archiv ist also gleichzeitig mit dem Gesetz verbunden wie auch mit dem Ort eines Hauses – eines stabilen, festen Ortes. Ausgehend von der Prämisse, dass der Ort „einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität“ enthält, ein Raum hingegen „ein Ort, mit dem man etwas macht“ (de Certeau 345), scheint mir das Archiv auch ein Ort der Beruhigung, des Schutzes, der Zuflucht zu sein. Ein Refugium ist ein „sicherer Ort, an dem jemand seine Zuflucht findet, an den er sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein“. (Duden) Es ist also der Ort, der einen Rückzug bietet, die Möglichkeit sich neu zu orientieren und zu sammeln. Allerdings ist dies häufig nur temporär, das heisst nur auf eine bestimmte Zeit angelegt. Was heisst das übertragen auf das Archiv?

Das Archiv ist zunächst der Ort, an den man – als Künstler:in oder Schriftsteller:in zum Beispiel – eine Sammlung abgibt, damit diese sicher aufbewahrt und zugänglich gemacht wird. Übertragen wir den Gedanken der Zuflucht auf das Archiv könnte man folgendes sagen: Das Archiv ist ein Ort der Zuflucht – für all jene Dokumente, die, würden sie nicht Eingang in ein Archiv erhalten, auf Dachböden, in Kellern oder in anderen Depots lagerten und somit, meist unbearbeitet, dort verblieben oder gar verschimmelten und dadurch möglicherweise nie wieder das Licht der Welt erblickten. Auch für Exilautor:innen, die auf der Flucht Dokumente zurücklassen mussten, kann der Ort des Archivs auch posthum zu einem Zufluchtsort werden, wenn hier Dokumente versammelt werden, die zuvor verstreut waren. Das Archiv immerhin hat die Möglichkeit zu einem Raum zu werden, in dem Erfahrungen (d.h. die Benutzung und Verbreitung von Archivgut) möglich werden, während Dokumente in Kellern ungeordnet und möglicherweise unbenutzbar blieben. Gleiches gilt für verstreute Dokumente, die nicht im Archiv landen.

Zuflucht zu suchen bedeutet jedoch zuallererst der Wunsch nach Schutz vor Gefahren von Aussen. Das bedeutet auch Möglichkeiten, die diesen Schutz gefährden zunächst aus dem Weg zu räumen. Betrachten wir das Archiv als Ort der Zuflucht würde dies bedeuten, dass Erfahrungsmöglichkeiten eben gerade nicht möglich sein dürften, da dies nicht allein den physischen Schutz der Dokumente gefährden würde, sondern auch deren unerwünschte Benutzung, Verbreitung oder unerwünschte Weitergabe von Informationen. Dies kann zum Beispiel für Dokumente gelten, die eines besonderen Schutzstatus bedürfen, weil bei einer Veröffentlichung Persönlichkeits- oder Urheberrechte verletzt würden oder für solche Dokumente, die unter Verschluss bleiben müssen, weil sie unter den Status der Geheimhaltung fallen. Das Archiv ist zuallererst an das Gesetz gebunden. Es ist Hüter der Dokumente und auch wenn es sich der Transparenz und Zugänglichkeit von Dokumenten verschrieben hat, bietet es paradoxerweise zugleich die Möglichkeit zum Verschluss. Verschluss meint das Nicht-Offenlegen Dokumenten auf eine bestimmte Zeit. Dabei müssen rechtliche Voraussetzungen – so jedenfalls die Theorie – beachtet werden. Zudem gilt die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit, anders als die Pressefreiheit, uneingeschränkt:

Während die Pressefreiheit durch ein Gesetz beschränkt werden darf, gilt die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit unbeschränkt. […] Die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit darf also […] nicht durch ein Gesetz eingeschränkt werden, auch nicht durch die Archivgesetze. […] Sämtliche Sperrfristen können – solange es sich nicht um Fristen auf Grund besonderer Geheimschutzvorschriften handelt – zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung verkürzt werden. Das geht auch ohne die Einwilligung von in den Unterlagen genannten Personen, wenn das Forschungsinteresse größer zu bewerten ist als das Geheimhaltungsinteresse des Einzelnen oder wenn die berechtigten Interessen des Einzelnen durch andere Maßnahmen geschützt werden können, beispielsweise durch die Vorlage von anonymisierten Kopien oder besonderen Verwendungsauflagen an den Einsicht nehmenden Wissenschaftler. (Beleites 5)

Letztlich entscheiden Archivar:innen darüber, ob der Zugang gewährleistet werden kann; nicht aus Willkür, sondern nach dem „Prinzip praktischer Konkordanz“, wonach „[m]iteinander kollidierende, gegensätzliche Grundrechte [so zu] vermitteln [sind], dass möglichst keines der beiden Grundrechte völlig untergeht.“ (Beleites 5) Das Archiv ist, wie bereits erwähnt ein Refugium auf Zeit. Sobald eine Sperrfrist abgelaufen, eine Klage gewonnen, eine Einsicht von Aussen also möglich wird, verliert das Archiv den Status eines Ortes der Zuflucht und wird zum Erfahrungsraum.

Diese Annahme hat auch Einfluss auf die Forschung. Verschluss ist dabei nicht etwas dezidiert Schlechtes. Das Archiv hat auch die Aufgabe die Privatsphäre zu schützen und m.E. zu gewährleisten, dass Dokumente nicht in falsche Hände gelangen. Darum müssen Forschende, Journalist:innen, oder allgemeiner Benutzer:innen, in Archiven zurecht Anträge ausfüllen und angeben, zu welchem Zweck die Dokumente verwendet werden. Dies ist ein elementarer Bestandteil der Archivarbeit, der mitnichten unhinterfragt bleiben darf. Allerdings müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass auch in Archiven das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Rechtsstaat spürbar wird. Archive handeln im Sinne des Rechtsstaates und sind verpflichtet Archivgesetze einzuhalten, welche auch den Verschluss von Akten beinhalten. Gleichzeitig verpflichten sie sich zutiefst demokratischen Werten, einer grösstmöglichen Transparenz und der Zugänglichkeit von Archivgut.

Als Forschende müssen wir uns im Klaren sein, dass das Archiv kein Ort ist, an dem wir finden wonach wir suchen. Archive sind dynamisch – das ist virulent für das Verständnis von Archiven. Die Erkenntnis, die daraus folgen muss ist, dass auch die Geschichtsschreibung ein dynamischer Prozess ist. Auch wenn dies bereits bekannt ist und auch unter Historiker:innen immer präsenter wird, scheint mir eine stetige Erinnerung an diese Prozesshaftigkeit nötig. Archivgut verdient einen Schutzstatus im Sinne der Demokratie und des Rechtsstaates. Archive können dabei als Refugien auf Zeit dienen, die, sobald sie diesen Status verlassen, in einen dynamischen Prozess der Erfahrbarkeit eintauchen, der niemals als abgeschlossen betrachtet werden darf. Dies zu erkennen ist sowohl für die Arbeit von Archivar:innen als auch für Forscher:innen zentral.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die These des Archivs als Refugium auf zwei Ebenen funktioniert. Erstens auf der Ebene der Aufbewahrung. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Archiv zwar augenscheinlich der beste Ort für die Aufbewahrung von Dokumenten ist, gleichzeitig aber nicht gänzlich vor Gefahren geschützt. Insofern kann das Archiv in diesem Zusammenhang zwar als Refugium dienen, allerdings nur in dem Masse wie Schutzmassnahmen (klimatische oder bauliche z.B.) vorgenommen werden. Zweitens auf der Ebene der Erfahrbarkeit oder Benutzbarkeit. Hier hat das Archiv solange einen Schutzstatus wie es sich der Erfahrbarkeit entzieht. Das Archiv verliert diesen Schutzstatus, sobald Benutzer:innen in den Raum des Archivs eintreten und mit den Dokumenten etwas machen. Aber: Das Archiv verliert diesen Status nicht komplett, da es bis zu einem gewissen Grad in der Macht des Archivs liegt, welche Dokumente nach Aussen getragen werden und welche nicht. Es ist möglich, dass die Benutzung verwehrt wird – nicht allein aus Gründen der Geheimhaltung, sondern auch aus konservatorischen oder anderen Gründen, die die Erhaltung des Dokuments gefährden könnten.

In Anlehnung an Foucaults Beschreibung des Archivs als System von „Aussagemöglichkeiten und -unmöglichkeiten“ (110) könnte man sagen: Das Archiv zirkuliert zwischen der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Erfahrbarkeit von Archivgut. Es ist Aufgabe des Archivs und der Forschung diese Prozesse zu erkennen, zu beschreiben und auch zu hinterfragen.

Text: © Anne Bendel, Februar 2024

Anmerkungen:
* Mit Dokument ist hier jegliches Archivgut gemeint (seien es Fotografien, Urkunden, Briefe, Kunstwerke oder anderes).
** Auf der Webseite des Historischen Archivs Köln finden sich nähere Informationen: https://www.stadt-koeln.de/artikel/07168/index.html, zuletzt abgerufen am 11.01.2024.
*** Da eine ausführliche Besprechung der Begriffe Ort und Raum in diesem Artikel zu ausufernd wäre, empfehle ich den Aufsatz von Michel de Certeau: Praktiken im Raum, in: Jörg, Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. Main: Suhrkamp, 8. Auflage, 2015. Zusätzlich seien Michel Foucaults Ausführungen zur Utopie und Heterotopie empfohlen (Michel Foucault: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hg. et.al.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, 1992). Auf beide Theorien bezieht sich dieser Artikel.

Literatur:
Beleites, Johannes: Zwei Grundrechte im Streit. Das Archivrecht im Spannungsverhältnis von Datenschutz und Informationsfreiheit, Vortrag gehalten auf dem 2. Workshop Archiv- und Bibliothekswesen vom 09.06-18.06.2006 in Kronstadt am 14.06.2006, in: honterus-archiv.ro, [o.D.], Online unter http://www.honterus-archiv.ro/fileadmin/user_upload/pdfs/14-7-06_Beleites.2_Grundrechte_im_Streit .net.pdf, zuletzt abgerufen am 29.09.2022.

Duden Redaktion: Refugium. Online unter https://www.duden.de/rechtschreibung/Refugium, zuletzt abgerufen am 10.01.2024.

Foucault, Michel: Das historische Apriori und das Archiv, in: Ebeling, Knut/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009, S. 107-112.

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