Das Archiv als Ort der Wiedergutmachung Teil 2

Mut zum Entsorgen. Aus dem Nachlass der jüdischen Künstlerin Vera Isler

In einem früheren Blogbeitrag „Das Archiv als Ort der Wiedergutmachung Teil 1 –Möglichkeiten und Perspektiven von Lücken im Archiv“ (Oktober 2023) bin ich bereits der Frage nach der Wiedergutmachung nachgegangen. Auch das Thema Kassation, also die Vernichtung von Unterlagen, wurde dort bereits angedeutet.  In diesem Artikel möchte ich die Frage nach der Wiedergutmachung noch einmal in Bezug auf das Kassieren von Unterlagen und unter Heranziehung der Erschliessungsarbeiten am Nachlass der jüdischen Künstlerin Vera Isler (1931 - 2015) aufwerfen. 
Vera-Isler-Archiv, im Dezember 2023
© Verein Blaue Blume, Vera-Isler-Archiv
Auch wenn Vera Isler ihrem Judentum zeitlebens erstaunlich wenig Beachtung geschenkt hat, ist dieser Aspekt angesichts ihrer Biographie kaum wegzudenken und spielt bei dem ohnehin sensiblen Thema Kassation unweigerlich eine Rolle – trotz einer gewissen Neutralität von Archivar:innen. Der Titel dieses Beitrags mag zunächst irreführend wirken – wie kann angesichts der Verbrechen der Nationalsozialisten das Entsorgen von Dokumenten einer jüdischen Künstlerin zur Wiedergutmachung beitragen? Diese Frage ist berechtigt, führt jedoch gleichzeitig zu einer Konfrontation, die in Archiven unausweichlich ist – der Frage nach der Balance zwischen Archivwürdigkeit und Entsorgung. Wie geht man mit dem Nachlass einer jüdischen Künstlerin um, die dem Terror der Nationalsozialisten im Dritten Reich nur knapp entkommen konnte und die sich, vielleicht gerade deshalb, primär als Frau in den 1960er bis 2000er Jahre, durchzusetzen und zu positionieren wusste? Ist es legitim, Dokumente oder gar Kunst dieser oder anderer Künstler:innen zu kassieren? Erscheint es nicht barbarisch einen solchen Nachlass derart zu bereinigen, ja zu verfremden? Das Archiv ist per se ein solch barbarischer Ort. Ulrich Raulff, ehemaliger Leiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach, beschreibt dies so: 

Durch die an militärische Investitur erinnernde Einlagerung der Papiere in Mappen einheitlicher Größe und Farbe […] und Kästen von gleicher Größe (die geeignet sind, einen Maßstab zur Quantifizierung von Archivgut abzugeben) wird eine reine Quantität geschaffen. Die wilde und bedrohliche Singularität der Nachlässe wird in der Uniformität des Archivguts gebändigt. (Raulff 229)

Trotz dieser fast militärisch klar strukturiert anmutenden Bändigung scheint die Aufarbeitung eines Nachlasses im Archiv eine der wirksamsten Möglichkeiten einen Nachlass dauerhaft erfahrbar zu machen. Dabei kann und muss das Entsorgen eine Rolle spielen. Das Thema Kassation ist unter Archivar:innen dennoch ein sensibles. Was soll, kann und darf kassiert werden? Allein schon vor dem Hintergrund, dass Kassation eines der Mittel ist, denen sich Archivar:innen bedienen müssen, um mit der Flut an Dokumenten zurecht zu kommen. Dies darf jedoch niemals willkürlich geschehen und bedarf sorgfältiger Überlegungen. Ein künstlerischer Nachlass ist zudem aufgrund einer möglichen Verkaufsbereitschaft anders zu betrachten, als beispielsweise Nachlässe aus denen nichts oder kaum etwas veräussert wird. Damit unterliegen sie einer besonderen, auch und gerade ökonomischen, Dynamik.

Zum Nachlass Vera Isler
Vera Isler, 1980er, Signatur: A:VIA FA 101-1
© Verein Blaue Blume, Vera-Isler-Archiv
Vera Islers Nachlass besteht zu einem grossen Teil aus konkreten Arbeiten aus Blei oder Glas, Tapisserien und Teppichen, vor allem aber aus Fotografien, Dias und Negativen. Ein kleinerer Teil bildet die Bibliothek der Künstlerin, Zeitungen und Zeitschriften sowie audiovisuelle Medien, CDs und Kassetten. Daneben finden sich zahlreiche Dokumente zu Ausstellungen, Publikationen, Lesungen, Reisen, Korrespondenzen sowie zur Biographie Vera Islers. Insbesondere von Dokumenten und Fotografien sind vielfach Kopien und Dubletten erhalten, die zu einem grossen Teil von der Künstlerin signiert wurden. Zeitungsartikel und Zeitschriften sind ebenfalls mehrfach erhalten. Auch diese wurden teilweise mit den exakt gleichen Kommentaren, Klebezetteln und Verweisen versehen. Wie also soll man mit diesem Material umgehen? Sofern der Urheber im Vorfeld keine Entscheidung über eine mögliche Kassation getroffen hat, sind es im Grundsatz Archivar:innen, die darüber entscheiden, ob und was als archivwürdig betrachtet und damit dauerhaft gesichert wird. Dies setzt Vereinbarungen mit der Nachlassverwaltung und/oder Erben voraus, die es Archivar:innen ermöglicht, Entscheidungen über die Kassation treffen zu können. Falls kein solcher Spielraum gegeben ist, wird der Nachlass entweder nicht übernommen oder es muss der gesamte Nachlass – inklusive Kopien, Papierschnipseln oder sonstigem Material, das möglicherweise von aussen betrachtet „wertlos“ erscheint – aufbewahrt werden. Im Fall Vera Isler war ein solcher Spielraum gegeben, sodass relativ frei darüber entschieden werden konnte, was als aufbewahrungs- und damit als archivwürdig gilt und was nicht. Trotzdem wurde mit grosser Sorgfalt gearbeitet und versucht eine Balance zwischen der Würdigung Vera Islers (deren Anfertigung von unzähligen Kopien auch Rückschlüsse auf ihre Arbeitsweise zulässt), der Archivwürdigkeit als solches und letztlich der Benutzbarkeit zu erreichen.  In diesem Sinne ist ein hohes Mass an Sensibilität und Kenntnis über die Arbeitsprozesse der Künstlerin erforderlich, um die Balance zwischen Erhalt und Entsorgung wahren zu können. 

Aus der Perspektive eines Archivs muss entsorgt werden, allein aufgrund der Ökonomie von Archiven, aber auch aufgrund des klaren Forschungsauftrags, respektive des Auftrags der Transparenz und der Zugänglichkeit von Archiven. Das Schmälern eines Nachlasses ist aus dieser Perspektive nicht nur förderlich, sondern auch erwünscht, weil es die Erhaltung und den Zugang erheblich erleichtert, wenn man sich als Forscher:in nicht durch unzählige Kopien durcharbeiten muss. Schaut man auf die Perspektive einer jüdischen Frau, die als Künstlerin und Fotografin aktiv sein konnte, ist eine umgekehrte Haltung durchaus nachvollziehbar. Dies ist insbesondere an den unzähligen Fotokopien, die sich in Vera Islers Nachlass befinden, abzulesen. Vera Isler hat zeitlebens die Fotokopie als „Zukunft der Kunst" betrachtet – insofern ist der Erhalt dieser Kopien durchaus zu begrüssen. Auch hier wurde versucht eine Balance zwischen Erhalt, Arbeitsmethode und Benutzbarkeit zu wahren.

Eine klare und stetige Abwägung zwischen Erhalt und Entsorgung ist auch deshalb virulent, weil das Archiv – im Gegensatz zu Depots auf Dachböden und in Kellerräumen – ein relativ sicherer Ort ist, um einen Nachlass langfristig zu erhalten und zugänglich zu machen. Das Archiv kann dann als Ort der Wiedergutmachung verstanden werden, wenn sich dessen Vertreter (Archivar:innen) ihrem Auftrag bewusst sind und diesen klar formulieren. Transparenz ist auch und gerade dann nötig, wenn es um Kassation geht.

Wiedergutmachung heisst dabei nicht, Verbrechen wieder gut machen zu machen, sondern verantwortungsvoll mit Archivgut und damit mit Vergangenheit umzugehen. Ein solcher Auftrag ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine Verpflichtung von Archiven sowie jenen Institutionen und Vereinen, die sich der Erschliessung von Nachlässen annehmen, gegenüber jenen, die derart masslosen Verbrechen zum Opfer gefallen sind und die Folgen zum Teil bis heute, durch mangelnde Transparenz und Zugänglichkeit, tragen müssen. Gerade deshalb haben Archivar:innen als Vertreter von Archiven eine hohe Verantwortung, die sich nicht auf einzelne Nachlässe beschränkt, sondern ohne Übertreibung an die Grundsätze unseres heutigen Demokratieverständnisses knüpft. Wenn wir in einer Demokratie leben wollen, müssen wir uns auch den Prozessen innerhalb und ausserhalb von Archiven stellen und auch im Sinne derer handeln, die das Privileg, in einer Demokratie leben zu können, nicht hatten oder haben. Mut zum Entsorgen ist ein stetiger Balanceakt, aber auch einer, der notwendig ist, damit Vergangenheit erfahrbar bleibt.

Text: © Anne Bendel, März 2024

Literatur:
Raulff, Ulrich: Sie nehmen gern von den Lebendigen, in: Ebeling, Knut/Stephan Günzel (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009.

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