Das Archiv als Ort der Wiedergutmachung Teil 1
Möglichkeiten und Perspektiven von Lücken im Archiv

Angesichts der aktuellen Ereignisse in Israel und Palästina, aber auch des in Deutschland und in weiten Teilen Europas immer stärker werdenden Rechtsrucks, frage ich in diesem Blogbeitrag nach der Aufgabe von Archiven und anderen Gedächtnisinstitutionen. Ich frage auch deswegen danach, weil jedes Ereignis der Gegenwart, einem oder verschiedenen Ereignissen in der Vergangenheit vorausgeht. Das ist eine Binsenweisheit und doch muss (leider immer wieder) an diese Kausalzusammenhänge erinnert werden. Der jüdische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Hans Mayer (1907-2001) stellt in einem Gespräch mit Hanjo Kesting den Tag der Machtergreifung Hitlers, den 30. Januar 1933, als den absolute[n] Schicksalstag des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts (95) heraus. Mir scheint, dass wir diesen Schicksalstag noch immer nicht überwunden haben.
Eine wichtige Aufgabe von Archiven liegt in der Schaffung von Möglichkeiten zur Aufarbeitung durch Offenlegung und Transparenz. Als Wissenschaftlerin kann ich nur für eine solche Transparenz plädieren und muss gleichzeitig ernüchternd feststellen, dass diese, trotz der konkreten Aufgabe von Archiven, nicht immer eingehalten wird/werden kann. Dies hat diverse Gründe, auf die ich hier nicht vertieft eingehen will. Es ist jedoch faktisch so, dass noch immer nicht alle Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus vollständig zugänglich sind.* Die andere Frage ist, ob durch die vollständige Öffnung aller Archive (was niemals passieren wird und auch nicht passieren kann) Verbrechen der Vergangenheit „wieder gut gemacht“ werden können? Im eigentlichen Wortsinn muss die Antwort „Nein“ lauten. Eine derartige Bestrebung wäre vermessen und ohnehin undenkbar. Was mit „Wiedergutmachung“ aber gemeint sein kann und wie sich Archive in einem Wiedergutmachungsdiskurs positionieren können, zeigt das „Archivierungsprojekt der Wiedergutmachung“**, welches im Monatsbericht des BMF (Bundesamt für Finanzen) vom Januar 2021 vorgestellt wird. Darin heisst es:
[Es ist] wichtig, die Wiedergutmachung nicht abzuschließen, sondern die Folgeaufgaben anzunehmen. So ist mit der Wiedergutmachung die Verpflichtung verbunden, die Stimmen der Opfer zu erhalten und damit nicht nur das Gedenken an sie selbst, sondern auch an das Vermächtnis ihres Lebens und Überlebens dauerhaft fortzuführen. (73)
Mit „Folgeaufgaben“ sind die Aufgaben gemeint, die nach dem Tod der letzten Opfer der Verbrechen des Nationalsozialismus verbunden sind. Nun kann man danach fragen, wann das sein wird, denn indirekte Opfer des Nationalsozialismus wird es noch so lange geben, bis zwischen Israel und Palästina tatsächlicher Frieden herrscht - und dies unabhängig von den aktuellen Ereignissen. Zu den „Folgeaufgaben“ gehört ebenso die Frage, was passiert, wenn die letzte Zahlung an ein Opfer des Nationalsozialismus getätigt wurde.
Gleichwohl stellt sich die Frage nach der Aufgabe von Archiven in einem solchen Diskurs bereits sehr viel früher. Archive haben ganz grundsätzlich die Aufgabe Dokumente aufzubewahren, zu erhalten und zugänglich zu machen und gerade über diese Zugänglichkeit werden wir uns in den kommenden Jahren vertieft Gedanken machen müssen.
Meine Aufgabe als Wissenschaftlerin ist es, die Lücken der Zugänglichkeit zu thematisieren und auf diese aufmerksam zu machen. Als Archivarin ist es meine Aufgabe, immer wieder neu danach zu fragen, welche Lücken durch die Erschliessung eines Bestandes geschlossen werden können und welche neu aufgemacht werden – beispielsweise durch das zweifelsohne wichtige Mittel der Kassation (Vernichtung von Unterlagen) oder durch Verschluss oder Zurückhaltung von Dokumenten. Archive sind auch Schutzräume und Lücken nicht immer etwas dezidiert Schlechtes. Sie verweisen auch auf die Notwendigkeit der Schaffung von Räumen, die ein Refugium bilden und eben nicht von jedem eingesehen werden können. Ich denke an Dokumente von Personen oder Entitäten, die verfolgt oder observiert wurden, oder Dokumente, die noch lebende Personen betreffen. Für den Schutz dieser Dokumente gibt es Gesetze. Auch dieser Schutz kann ein Akt der Wiedergutmachung sein. Es geht letztlich um einen verantwortungsvollen und wachen Umgang mit Archivgut im Sinne der Bedingungen und Möglichkeiten von Archiven und der Wissenschaft – und im Sinne der Demokratie.
Als Letztes, und dafür plädiere ich in fast allen meiner Texte: Es lohnt sich einen Blick in die Literatur oder auf die Kunst und die Philosophie zu werfen. Oft finden sich hier Wahrheiten, die wir in einem wissenschaftlichen Text oder in einem Archiv nie finden könnten. Lesen, betrachten, studieren wir sie – auch das ist ein Akt der Wiedergutmachung und ein, wenn auch vielleicht bescheidenes, Zeichen des Widerstands.
Text und Foto: © Anne Bendel, Oktober 2023
Anmerkungen:
* Dies betrifft beispielsweise den seit 1998 bestehenden Nazi War Crimes Disclosure Act, durch den
Dokumente aus der Zeit des Holocaust, andere Kriegsverbrechen sowie die US-amerikanische
Beteiligung am Kalten Krieg offengelegt werden sollen, was laut der Journalistin Gaby Weber nicht
lückenlos zutrifft. (Vgl. Weber, Gaby: „Sie lächerlicher Pimpel“. Das viermonatige Interview mit Adolf
Eichmann in Buenos Aires 1956, in: Jipps, Vol.2, Nr. 2/2012. Online unter http://www.gabyweber.com/dwnld/artikel/sassen.pdf, zuletzt abgerufen am 10.10.2023).
** Bei dem genannten „Archivierungsprojekt der Wiedergutmachung“ handelt es sich spezifisch um ein Projekt zur Archivierung der Akten zur Wiedergutmachung.
Literatur:
Bundesfinanzministerium: Das Archivierungsprojekt der Wiedergutmachung und seine Bedeutung im Kampf gegen den Antisemitismus. Online unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2021/01/Inhalte/Kapitel-3-Analysen/3-7-archivierungsprojekt-wiedergutmachung.html, zuletzt abgerufen am 10.10.2023.
Kesting, Hanjo (Hg.): Hans Mayer im Gespräch, in: Begegnungen mit Hans Mayer. Aufsätze und Gespräche. Göttingen: Wallstein, 2007.
Weber, Gaby: „Sie lächerlicher Pimpel“. Das viermonatige Interview mit Adolf Eichmann in Buenos Aires 1956, in: Jipps, Vol.2, Nr. 2/2012. Online unter http://www.gabyweber.com/dwnld/artikel/sassen.pdf, zuletzt abgerufen am 10.10.2023.
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