Else Lasker-Schüler: Ein Koffer zwischen Zürich und Jerusalem

Installation Ofri Cnaani, NLI Jerusalem, Herbst 2013,
Foto: © Anne Bendel
Weil Else Lasker-Schüler zu meinen Lieblingsdichterinnen gehört und wir diesen Monat ihren 154. Geburtstag feiern (11. Februar) möchte ich einen kleinen Ausschnitt aus meiner Masterarbeit teilen, die ich 2016 zum Thema "Das Archiv zwischen Utopie und Heterotopie am Beispiel Else Lasker-Schüler und Hannah Arendt" abgeschlossen habe. Die Geschichte ihres Nachlass ist zudem auch aus archivperspektivischer Sicht äusserst spannend.

Fünfzig Jahre nach Else Lasker-Schülers Tod „just vor der Eröffnung der großen Gedenkausstellung im Zürcher Museum Strauhof im Juni 1995“ (Hildebrandt) als die Lasker-Schüler Forschung gerade ihren Höhepunkt erreicht hatte und sie als Dichterin längst in die Geschichte deutschsprachiger Literatur eingegangen war, wird in der Buchhandlung Oprecht in Zürich ein Koffer gefunden, der Typoskripte ihres Hauptwerks Das Hebräerland enthält. Kurz vor ihrer letzten Palästinareise im Frühjahr 1939 hatte Lasker-Schüler den 1995 wiederentdeckten Koffer ihrem Verleger Oprecht anvertraut, in dem Glauben, nach ihrem Aufenthalt in Palästina wieder in die Schweiz einreisen zu können und den Koffer in ihren Besitz zu nehmen. Wie Martin Bircher erklärt, habe sie „[d]en neulich aufgefundenen Koffer […] von ihrem Hotel Seehof an der Schifflände 28 an die nahegelegene Rämistraße in die Buchhandlung ihres Verlegers Dr. Oprecht [gebracht], wo sie ihn in Sicherheit wußte“ (139). Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und durch die verschärften Einreisebestimmungen war Lasker-Schüler eine Rückkehr in die Schweiz verwehrt (Vgl. Hildebrandt). Bereits am 30. September 1938 wurde in der NZZ verkündet, dass 138 Deutsche aus der Schweiz ausgebürgert werden sollten, „unter ihnen Else Lasker- Schüler“ (Bircher 126). Nach der endgültigen Verweigerung der Einreise in die Schweiz war Lasker-Schüler gezwungen in Jerusalem zu bleiben, zahlreiche ihrer Aufzeichnungen, Manus- und Typoskripte, Briefe und Zeichnungen, sowie weitere Dokumente blieben in der Schweiz zurück und gerieten zum Teil über Jahrzehnte in Vergessenheit. Neben dem 1995 gefundenen Koffer mit Typoskripten des Hebräerlands und diversen kleineren Erzählungen Lasker-Schülers und anderen Zeitgenossen (Vgl. Rietschel), fanden sich bereits 1958 vier zurückgelassene Koffer aus ihrem Besitz. Der Schauspieler Ernst Ginsberg, der bei der Uraufführung von Lasker-Schülers Stück Arthur Aronymus im Schauspielhaus Zürich im Jahr 1936 eine der Hauptrollen spielte, fand diese im Keller des Kunsthauses Zürich. Drei der Koffer enthielten Zeichnungen ihres Sohnes Paul, der vierte enthielt bis dahin unbekannte Dichtungen Else Lasker-Schülers (Vgl. Bircher 139). Mit dem Fund der besagten vier Koffer schien das Kapitel abgeschlossen – „niemand erwartete weitere spektakuläre Funde“ (Jahn).

Wie kam es dazu, dass ein Koffer über eine so lange Zeit in Vergessenheit geraten konnte und welche Ansprüche der Archive, sowohl deutscher als auch israelischer Seite, wurden geltend gemacht? Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Koffer während des Zweiten Weltkriegs vom Verleger Oprecht zurückgehalten wurde, um einer möglichen Vernichtung der Dokumente zu entgehen. Auch dürfte Oprecht nicht allzu viele Personen damit vertraut gemacht haben. Da er bereits 1952 verstarb, sieben Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als Europa noch mit ganz anderen Problemen als einem zurückgelassenen Koffer einer aus der Schweiz vertriebenen Dichterin zu kämpfen hatte, ist es wahrscheinlich, dass der Koffer jahrelang in Vergessenheit geriet. Zumindest ist es Oprecht gelungen den Koffer aufzubewahren und vor einer möglichen Vernichtung durch die Nationalsozialisten zu retten. Die Tatsache, dass der Koffer über Jahre vergessen schien, ist bei oberflächlicher Betrachtung nicht allzu verwunderlich, bedenkt man die Geschehnisse und Schwierigkeiten, mit denen ein Verlag wie Oprecht zu kämpfen hatte. Hinzu kommt, dass solche Fälle wie die Lasker-Schülers kein Einzelfall gewesen sein dürften. Eine Auflistung der Dokumente aus dem Verlagsarchiv Oprecht/Europa-Verlag aus der Zentralbibliothek Zürich zeigt die Fülle der verlegerischen und politischen Aktivitäten und die Autor:innen mit denen Oprecht korrespondierte. Zahlreiche dieser Dokumente sind zwar bereits verwertet worden, dies betrifft jedoch längst nicht den gesamten Bestand. Dass sich die Aufarbeitung und Erschließung von Dokumenten, gerade aus den Kriegsjahren, über Jahre erstrecken kann, wird allein durch die Fülle an Dokumenten ersichtlich. Im Fall Lasker-Schüler wird dies auch durch die Schwierigkeiten bei der Nachlassverwaltung deutlich. Wie Jakob Hessing in seiner Besprechung Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945-1971 untersucht, hat die Verschuldung der jüdischen Dichterin, die zeitlebens von dem Verleger Salman Schocken sowie einer Unterabteilung der Jewish Agency for Palestine mit einem Darlehen unterstützt wurde, dazu geführt, dass der Rechtsanwalt Dr. Salli Hirsch vom Bezirksamt Jerusalem als Nachlassverwalter eingesetzt wurde. „Als Gläubiger Else Lasker-Schülers [hatte dies] das ‘Central Bureau’ in einer Eingabe an das Bezirksamt Jerusalem“ beantragt (Hessing 36). Dr. Hirsch hatte die Aufgabe die Erbschaftsfrage zu klären, „[a]ber in den Wirren der ersten Nachkriegszeit wurde es ihm unmöglich, nennenswerte Fortschritte zu erzielen“ (Ebd.). Nach ersten Kontakten über Gottfried Benn, Max Brod und Schalom Ben-Chorin zum Limes-Verlag, der an einer Herausgabe der Werke interessiert war, wurde letztlich Ernst Ginsberg durch den Kösel-Verlag „mit der Vorbereitung von ‘Dichtungen und Dokumente’ beauftragt“ (Hessing 37). Aufgrund einer Erkrankung des Rechtsanwalts Dr. Hirsch musste die Nachlassverwaltung übergeben werden. Manfred Sturmann wurde als Nachfolger eingesetzt. Hessing schreibt: „Am 26. Mai 1950 legte er eine erste Bestandsaufnahme vor und bat Werner Kraft noch im Oktober des gleichen Jahres um die genauere Sichtung des Materials. Im Spätsommer 1952 schloß Werner Kraft seinen Nachlaßbericht ab und ging in ihm besonders auf das unveröffentlichte Drama ‘IchundIch’ ein. Weitere Teile des Nachlasses kamen im Laufe des Jahrzehnts dann noch aus der Schweiz hinzu: das in den Kellerräumen ihrer Exile verstreute Hab und Gut einer Emigrantin, das heute den Grundstock des Lasker-Schüler-Archivs in der Handschriftenabteilung der Jerusalemer Universitäts- und Nationalbibliothek bildet.“ (Ebd.) Zu dieser Zeit schien es also keinerlei Probleme zu geben, „das in den Kellerräumen verstreute Hab und Gut“ an die Nachlassverwaltung in Jerusalem zu übergeben. Es stellt sich weiter die Frage, weshalb ein weiterer Koffer erst oder gerade 1995 wiederentdeckt wurde – zu einem Zeitpunkt, wie bereits einleitend erklärt, als die Gedenkausstellung zum 50jährigen Todestag der Dichterin kurz bevorstand? Martin Bircher schreibt in einem Aufsatz zum 50. Todestag Else Lasker-Schülers: „Bei der Vorbereitung zur Ausstellung über Else Lasker-Schülers Leben und Werk fand sich im Mai 1995 ein weiterer brauner Koffer bedeutenden Inhalts aus dem Besitz der Dichterin, den sie bei ihrer Abreise in Zürich hinterlassen hat und der während der Dauer der Ausstellung zu sehen war. In der Presse ist ihm ganz ungewöhnliche Beachtung geschenkt worden. Beachtlich ist übrigens, daß sie ihn in ihrem Notizbuch, das sich im Jerusalemer Nachlaß erhalten hat, verzeichnet hat.“ (139). Bircher stellt hier keine explizite Vermutung über den plötzlichen Fund des Koffers an. Dennoch lässt sich behaupten, dass eine bewusste Zurückhaltung des Koffers nicht auszuschließen ist. Da Lasker-Schüler den Koffer verzeichnet hat, scheint ihr einiges daran gelegen zu haben, diesen nach Jerusalem schicken zu lassen. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Bircher sich durch diese Bemerkung für eine Übergabe des Koffers an die NLI ausgesprochen hat. Die Übergabe an die israelische Nationalbibliothek vollzog sich knapp ein Jahr nach der vermeintlichen Wiederentdeckung, was die Lage nicht minder brisant macht. Noch im Jahr 1995 schien die Rechtslage „vertrackt“, wie Hajo Jahn, Leiter des Else Lasker-Schüler-Archivs in Wuppertal, in einem Artikel über den Kofferfund berichtet. Seitens des Lasker-Schüler-Archivs gab es keine Bemühungen den Koffer in Besitz zu nehmen, wenngleich das Wuppertaler Archiv hätte Anspruch erheben können, da Elberfeld Geburtsort der Dichterin war. Aus dem Artikel Der strittige Koffer Else Lasker-Schülers endlich in Jerusalem von Paul Alsperg, damaliger Nachlassverwalter Else Lasker-Schülers, geht hervor, weshalb der Koffer aus Sicht Alspergs an die israelische Nationalbibliothek übergeben werden sollte: „Ich kann die Stadtväter von Zürich eigentlich recht gut verstehen, daß sie den kleinen, zerzausten, braunen Koffer der heute so berühmten Dichterin in ihrer Stadt behalten wollten. Sie selbst hatte Zürich sehr geliebt, doch damals – vor 60 Jahren – wollte man sie, trotz all ihrer Bitten, weder in Zürich noch an einem anderen Ort der Schweiz belassen, […].“ Alsperg legt hier vor allem den moralischen Grund für eine Übergabe an das Else Lasker-Schüler-Archiv in Jerusalem nahe. Da Lasker-Schüler aus Zürich verbannt wurde und in Jerusalem zurückbleiben musste, gehörte nach Meinung Alspergs ebenso der gefundene Koffer nach Jerusalem. Die Stadtverwaltung Zürich sowie die Leitung der Buchhandlung Oprecht waren jedoch anderer Ansicht. Alsperg erklärt: „Bei [einem] Treffen stellte sich [Barbara Sidler,] die Leiterin der Verlagsbuchhandlung [,] auf den Standpunkt, daß der Koffer Teil des Nachlasses der Familie Oprecht sei, der insgesamt der Zentralbibliothek Zürich vermacht wurde.“ Die Schilderungen Alspergs über den Hergang und die Verzögerungen der Übergabe vermitteln durchaus den Eindruck, dass es sich um eine Konstruktion des Funds kurz vor der Gedenkausstellung zum 50. Todestag Else Lasker-Schülers gehandelt hat. Wie Alsperg weiter berichtet, wurde der Fund des Koffers sowohl der Nachlassverwaltung als auch den Kollegen in Wuppertal verschwiegen. Erst ein Artikel aus der NZZ vom Juni 1995, als die Ausstellung in Zürich bereits begonnen hatte und der Inhalt des Koffers gezeigt werden konnte, „war für uns in Jerusalem die erste Information über den so überraschenden wichtigen Fund“ (Ebd.). Damit wäre ein weiteres Indiz gegeben, das für eine Konstruktion des Funds spräche. Die Frage über die rechtmäßigen Erben und damit über den Verbleib des Koffers, dürfte damit jedoch keineswegs geklärt sein. Ein Gespräch mit Barbara Sidler und Rainer Diederichs (Februar 2016), ehemaliger Mitarbeiter der ZB Zürich, dessen Verdienst es war, den besagten Koffer nach Jerusalem zu transportieren, ist diesbezüglich aufschlussreich. Der Fund, so erzählten sie, war für Zürich überraschend und beide zeigten sich nach knapp 10 Jahren noch immer sichtlich betroffen von der Auseinandersetzung mit der israelischen Nationalbibliothek. Die NLI, so Diederichs, habe im Grunde noch nie einen Anspruch gehabt. Dennoch habe die ZB Zürich entschieden „im Sinne der Forschung“ zu handeln und den Koffer an die NLI zu übergeben. Anfang des Jahres 1996 fuhr Diederichs zusammen mit seiner Frau nach Jerusalem, um den Koffer an das hiesige Archiv zu übergeben. Kurz darauf veröffentlichte er einen Artikel in der NZZ, auch „zur Beruhigung der Gemüter“, wie er berichtete. In dem Artikel heißt es wie folgt: „[Der fragile] Zustand [des Koffers] und die für die Forschung wichtigen Dokumente machten es notwendig, das Geschenk per Kurier nach Jerusalem zu bringen. Entgegen den Befürchtungen erfolgte die Einfuhr der Dokumente beim Zoll völlig problemlos, keine Befragung, kein Öffnen des Koffers – als hätte ihn Jerusalem längst erwartet. Bei der Übergabe der Schenkung in der Nationalbibliothek kam in kurzen Ansprachen die kaum verhohlene Ungeduld zum Ausdruck, diesen wichtigen Fund endlich in den Nachlass der Dichterin einzugliedern. […] Das Forschungszentrum [Franz-Rosenzweig-Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte] plant die Veröffentlichung einer zwolfbändigen kritischen Ausgabe von Else Lasker-Schülers Werken und Briefen. […] Verständlich, dass der Koffer aus Zürich eine wichtige Bereicherung der Forschungsunterlagen darstellt.“ Der Unmut über die Begrüßung in Jerusalem und die Übergabe lässt sich unschwer erkennen. Es bleibt fraglich, ob und inwieweit der Koffer tatsächlich nach Jerusalem hätte übergehen sollen. Dies ist letztlich auch eine Frage der Überführung jüdischen Kulturguts und der Versammlung an einem Ort – nämlich Israel. Letztlich bleibt diskussionsbedarf über den rechtmäßigen Verbleib des Koffers. Fest steht, dass der Fund die Else Lasker-Schüler Forschung weitgehend verändert hat. Wie Alsberg in seinem Artikel abschließend erklärt „[sind die Dokumente aus dem Koffer] [f]ür die textkritische Edition aller Schriften von Else Lasker-Schüler […] von unschätzbarem Wert.“

Gerade die Entstehungsgeschichte des Hauptwerks Else Lasker-Schülers Das Hebräerland ist überaus komplex. Auch aus diesem Grund war der Fund in Zürich unzweifelhaft eine Bereicherung für die Kritische Ausgabe, in der der Fund aus Zürich auch dokumentiert ist. Sabine Graf stellt in ihrer Untersuchung der Überlieferung und Edition fest: „Die Arbeit der Herausgeber der Kritischen Ausgabe erweist sich demnach als eine detektivische (Dechifrierungs-)Arbeit von Selektion, Rekonstruktion und Kommentierung dessen, was im Nachlass vorliegt und für ‘publikationswürdig’ befunden wird.“ Schon aus dieser Hinsicht kann das Archiv nicht als bloßer Speicherort der Dokumente angesehen werden. Es ist ein Raum, der sich durch die Arbeit von Herausgebern und Forschern öffnet und gleichzeitig schließt. Dabei spielt die von Graf angesprochene Selektion der Dokumente eine ganz entscheidende Rolle. Ob ein Dokument für „publikationswürdig“ befunden wird, liegt vor allem bei der Entscheidung der Herausgeber, die sich wiederum auch aus ökonomischen Gründen für oder gegen ein Dokument entscheiden. Dieser Vorgang ist nicht immer ganz leicht nachzuvollziehen und bringt eine Vielzahl von Problemen mit sich, die hier nicht diskutiert werden können. Indessen scheint mir, dass gerade ein solcher Streit um einen verschollenen Koffer die Publikationsarbeit überschattet und das eigentliche Dokument von der Oberfläche weichen lässt. Es ist jedoch, und das sei hier nochmals betont, nicht verschwunden, da es abgelegt wurde. Hier zeigt sich, dass das Archiv sehr stark zirkuliert – und zwar zwischen den komplexen Machtgefügen; kurz: zwischen Ort und Raum und zwischen Utopie und Heterotopie (Vgl. Focault). Das Archiv ist kein Ort, an dem sich Dokumente nur ansammeln. Es sammelt in einer ganz evidenten Weise und macht dadurch Machtansprüche geltend. Damit ist das Archiv ein Ort an dem sich Macht akkumuliert, paradoxerweise gerade aus dem Anspruch heraus der Forschung zu dienen, die das Archiv in einen Raum verwandelt und dadurch die Macht über ein Dokument verlieren lässt. Die Kontrolle über das Dokument bleibt jedoch bestehen. So ist es notwendig für die Einsichtnahme der Dokumente aus dem Koffer, die in der ZB Zürich im Nachlass Emil Oprecht in Xerokopien enthalten sind, eine schriftliche Genehmigung der NLI einzuholen. Dennoch verliert das Archiv durch den Eintritt der Forschung an Macht über das Dokument. Niemand, auch nicht der Forschende, kann zum Zeitpunkt der Einsichtnahme der Dokumente sagen, zu welchem Ergebnis er kommen wird. Dies würde die Forschung selbst überflüssig machen. Das Archiv und die Nachlassverwaltung können letztlich nur darüber bestimmen, ob ein Dokument eingesehen werden darf oder nicht, nicht aber wie und ob es im Falle einer Einsichtnahme bewertet wird. Was also außerhalb des Archivs mit dem Dokument, das heißt durch dessen Bewertung und Interpretation, geschieht, obliegt nicht mehr allein der Macht des Archivs. Selbst wenn das Dokument nicht freigeben wird, ist es in-der-Welt, denn es können immer wieder neue Spuren entdeckt werden, die zum Dokument führen.

Ich möchte mit einem Abschnitt der israelischen Künstlerin Ofri Cnaani, deren Videoprojektion mit Gedichten Else Lasker-Schülers ich im Herbst 2013 auf der Glasfassade der israelischen Nationalbibliothek bewundern durfte, schließen: „Despite the fact that in my video pieces I directly reference six of Lasker-Schüler's poems, the choice to respond to her archive in a modern work of art is not focused on one specific text, but rather on the creative figure that she represents – someone who is torn between two homelands, two languages, and who is constantly struggling to find her place between the fringes and the center, between the artistically explosive Berlin and the exotic East, between home and exile. I see in her works an almost despairing need to be read.” Die fast verzweifelte Notwendigkeit Else Lasker-Schülers Texte zu lesen, bringt mich dazu diesen Artikel zu veröffentlichen – auch, um daran zu erinnern, wie fragil und gleichzeitig poetisch unser Verständnis des Konzepts von Archiven, und damit der Erinnerungskultur selbst, ist.

Text und Foto: © Anne Bendel, Februar 2023

Literatur:
Alsberg, Paul: Der strittige Koffer Else Lasker-Schülers endlich in Jerusalem, in: MB. Nr. 177. März-April 1996. S. 8. Fotokopie. Original in NLI Jerusalem: Else Lasker-Schüler-Archiv, Zugang 8:989.

Bircher, Martin: Die größte Lyrikerin die Deutschland je hatte. Zu Else Lasker-Schülers 50. Todestag und zum Fund eines Koffers aus ihrem Besitz, in: Librarium: Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft. Nr. 38, Heft 2, 1995.

Cnaani, Ofri: “Anyone who has started these journeys in their lives also had to leave something behind”. An interview with Ofri Cnaani. Online unter http://web.nli.org.il/sites/NLI/English/library/
Culture/12_artists/Else-Lasker-Schuler/Pages/interview.aspex, zuletzt abgerufen am 08.07.2014.

Diederichs, Rainer: Else Lasker-Schülers Köfferchen. Eine Reise nach Jerusalem, in: NZZ Neue Zürcher Zeitung. Nr. 47, 26.02.1996.

Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz (Hg. et.al.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1992.

Graf, Sabine: Poetik des Transfers. »Das Hebräerland« von Else Lasker-Schüler. Köln/Weimar/Wien: Böhlau, 2009.

Hessing, Jakob: Die Heimkehr einer jüdischen Emigrantin. Else Lasker-Schülers mythisierende Rezeption 1945-1971. Tübingen: Niemeyer, 1993.

Hildebrandt, Irma: Leben aus dem Koffer – Else Lasker-Schüler, in: Die Frauenzimmer kommen: 16 Zürcher Portraits. Diederichs, 1997.

Jahn, Hajo: Koffer der Geschichte. Zum Nachlaß von Else Lasker-Schüler, in: Israel Nachrichten. 14. Juli 1995. S. 12. Fotokopie, Original in NLI Jerusalem: Else Lasker-Schüler-Archiv, Zugang 8:948.

Rietschel, Thomas: Ein sensationeller Fund. Der Koffer aus dem Keller, in: FAZ. [16. Juni 1995]. Fotokopie, Original in NLI Jerusalem: Else Lasker-Schüler-Archiv, Zugang 8:973.

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