„Im Anfang war das Archiv…“
Für diejenigen unter euch, die sich mit dem Archiv noch nicht oder nur rudimentär beschäftigt haben, möchte ich an dieser Stelle einen kleinen Rückgriff auf den Anfang machen – nämlich auf das Wort Archiv.

Seit einigen Jahren hat das Archiv und die Beschäftigung mit dem Konzept des Archivs an Popularität gewonnen. Was aber verstehen wir unter „Archiv“? Schauen wir hierzu auf die Etymologie des Begriffs Archiv.
Archiv ist zunächst auf das Wort arché zurückzuführen und bedeutet so viel wie Ursprung oder Anfang. Derrida beschreibt dies als „das Anfänglich-Gründende, das Anfänglich-Einfache, kurz […] Anfang“ (Derrida 31). Es bedeutet aber auch Gebot oder Gesetz. Das Wort archive ist ausserdem mit dem griechischen archeîon verwandt, was ebenfalls auf eine Verbindung mit dem Gesetz hindeutet. Die archonten waren dabei so etwas wie die Vorläufer des modernen Archivars. Sie hatten die Macht, die Dokumente zu bewahren und sie zu interpretieren (Vgl. Derrida 32). Nach dem heutigen Verständnis interpretieren Archivare und Archivarinnen allerdings nicht – sie verwalten (Günzel 154). Das Interpretieren ist aus gutem Grund Sache der Forschung.
Das Archiv ist tief verwurzelt mit dem Begriff Gedächtnis oder Erinnerung – zwei für sich genommen durchaus komplexe Begriffe. Das Gedächtnis um das es hier geht, ist kultureller Art und führt uns zurück an die Anfänge unserer Kultur. Andererseits ist das Archiv ebenso mit dem Begriff der Sammlung oder des Sammelns verbunden, was natürlich auch Sinn macht. Um sich zu einem späteren Zeitpunkt zu erinnern, sammelt man – Fotos, Briefe, Gegenstände. Auch gesammelt wurde seit Anbeginn der Menschheit. Nicht in dem Sinne, in dem wir es heute tun. Menschen haben in erster Linie gesammelt, um zu überleben – Feuerholz, Steine, um Feuer zu machen, Nahrung. Heute sammeln wir aus ganz unterschiedlichen Gründen – aus Nostalgie, als Altersvorsorge oder aus anderen finanziellen Gründen, aus Leidenschaft, manchmal aus Zwang. Der Eintrag zum Begriff sammeln aus dem Grimmschen Wörterbuch von 1892 ist diesbezüglich bemerkenswert: „zerstreutes auf einen ort zusammenbringen, dann besonders in dem sinne, dasz das zusammengebrachte als copia, vorrath, verbrauchsmasse dienen soll“ und weiter „objecte zusammensuchen, die wissenschaftliches, künstlerisches interesse haben oder der liebhaberei dienen“ (Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch). Das ist auch aus archivarischer Sicht interessant. Archive sammeln (damit ist passives ansammeln aber auch aktives sammeln gemeint), um einen Bestand möglichst an einem Ort zusammenzuführen. Dies ist nicht der einzige Grund, warum Archive sammeln, denn auch hier geht es um Prestige. Allerdings ist dies ein anderes Thema und soll darum an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Das Sammeln jedenfalls ist von Beginn an fester Bestandteil des Archivs und mehr oder weniger natürlich auch derjenigen Personen, die ihren Vor- oder Nachlass einem Archiv übergeben wollen. Man könnte sagen, dass das Sammeln, also im weitesten Sinne das Aufbewahren, von Dingen eine Prämisse für die Existenz von Archiven ist. Würden wir nicht sammeln, hätten wir keinen Grund etwas zu erhalten und weiterzugeben – zwei wesentliche Gründe, weshalb Archive notwendig, aber durchaus auch kontrovers zu betrachten sind und zwar deshalb, weil Archive nicht nur erhalten, sondern auch zerstören. Sie bewahren nicht nur, sie ver-wahren auch. Halten Dinge unter Verschluss, vernichten, tilgen, zensieren – nicht nur in autokratischen Systemen.
Um dies zu verstehen, ist es unerlässlich sich mit den Anfängen und damit zu allererst mit dem Wort Archiv zu beschäftigen. All das, was das Archiv heute ist – Konzept, kulturelles Gedächtnis oder Speicher, Institution, Methode, Ort des Wissens, „Aussagensystem“ (Foucault 110) – liegt im Begriff des Archivs begründet. Das Archiv ist, ohne an dieser Stelle eine Wertung vorzunehmen, ein Machtzentrum. Dies geht aus der ursprünglichen Bedeutung und der Geschichte des Archivs deutlich hervor. Wenn wir das Archiv aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, wird es begreifbarer und damit vertrauter. Entscheidend ist, dass, auch wenn wir Stabilität vom Archiv erwarten, es in einem dynamischen Zusammenspiel mit Gesellschaft und Politik verstanden wird. Denn: Das Archiv ist in seinem Wesen politisch.
Text: © Anne Bendel, November 2022
Literatur:
Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben, in: Ebeling, Knut/Stephan Günzel (Hg): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009.
Foucault, Michel: Das historische Apriori und das Archiv, in: Ebeling, Knut/Stephan Günzel (Hg): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009.
Günzel, Stephan (Hg. et al.): Archivtheorie zwischen Diskursanalyse und Phänomenologie, in: Ebeling, Knut/Stephan Günzel (Hg): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos, 2009.
„SAMMELN, verb.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21. Online unter <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=S01471>, zuletzt abgerufen am 27.11.2022.
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