„Berufsethik für Archivar:innen – Gedanken zum Kodex ethischer Grundsätze für Archivar:innen“

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Warum braucht es einen Kodex ethischer Grundsätze für Archivar:innen und warum sollten nicht nur Berufsarchivar:innen diesen kennen? Hierzu müssen wir erst einmal verstehen, was die Aufgaben von Archivar:innen sind. 

Zentrale Aufgabe von Archivar:innen ist die Bewertung von Dokumenten. Archivar:innen entscheiden darüber, ob ein Dokument als archivwürdig gilt oder nicht. Das allein bringt schon eine Reihe von Fragen mit sich, noch bevor das Dokument* in ein Archiv gelangt: Ist dieses oder jenes Dokument von solcher Relevanz, dass es dauerhaft archiviert und erhalten werden soll? Wenn nicht, was passiert mit dem Dokument? Hat das Archiv die nötige Kapazität (räumlich, zeitlich, personell)?

Ein zweiter Schritt ist die Übernahme der für archivwürdig befundenen Dokumente in ein Archiv, die Überlieferungsbildung sowie nicht zuletzt die Sicherstellung der Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit. An dieser Stelle tritt bereits ein Problem auf, da nicht sämtliches Archivmaterial für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann – allein schon aufgrund von Persönlichkeits-, Urheber- und Datenschutzrechten – auch wenn dies von den meisten Wissenschaftler:innen gefordert wird. Historiker:innen fordern zudem neben der "Sicherung von Unterlagen" sowie "einer transparenten, d.h. nachvollziehbaren Überlieferungsbildung", die ebenso für Archivar:innen zentral ist, "eine "umfassende" Sicherung von Quellen". (Kellerhals 102) Archivar:innen stehen also von Grund auf in einem Interessenkonflikt mit der Wissenschaft. Das ist nicht neu, bringt jedoch immer wieder Herausforderungen mit sich, die auch im Kontext ethischer Grundsätze betrachtet werden müssen. Ein Kodex ethischer Grundsätze für Archivar:innen ist allein schon aus diesem Grund wichtig. Archivar:innen können sich so immer wieder selbst befragen, inwieweit sie diesen Leitlinien folgen.

"Der Ethik-Kodex der ArchivarInnen dient diesen als Orientierungsrahmen. Er soll sie ermutigen, die Integrität des Archivguts zu schützen, damit zuverlässige Nachweise vergangenen Handelns erhalten bleiben und diese nicht mit Blick auf eine bestimmte Sichtweise manipuliert werden können." (Kellerhals 101)

Einer weiterer zentraler Wert für Archivar:innen ist "die unparteiische Dienstleistung gegenüber allen Partner:innen und Interessierten". (VSA) Die Bereitstellung von Archivmaterial ist also eine Dienstleistung und sollte grundsätzlich unparteiisch sein.

Ein weiterer Punkt des Kodex ist die "Wahrung der Integrität und Authentizität des Archivgutes: Archivgut wird nicht verändert." (VSA) Dies ist für meine Begriffe, neben der Einhaltung des Provenienzprinzips (d.h. der Orientierung "an der ursprünglichen Ordnung der Unterlagen", VSA), der wichtigste Grundsatz. In meiner Arbeit für Stiftungen, Vereine, kleinere Institutionen, bei denen die Expertise für Archivfragen fehlt, erlebe ich z.T. eine andere Auffassung.

Dies kann unter Umständen dazu führen, dass Informationen falsch oder gar nicht überliefert werden, was wiederum Folgen für die Forschung hat. Auch und gerade als Forscher:in ist es daher wichtig, sich mit Prozessen innerhalb und ausserhalb von Archiven und/oder Institutionen, Vereinen oder Stiftungen, die Sammlungen betreuen und verwalten, vertraut zu machen. Die Praktiken des Archivs, respektive von Gedächtnisinstitutionen, sollten bereits an Universitäten in Seminaren, Workshops oder Vorlesungen vertieft behandelt werden, gerade in solchen Fächern, in denen Quellenforschung auf der Tagesordnung steht. Dies ist bislang noch zu wenig der Fall. Das Archiv darf dabei weder als universeller Ort, von dem alles Wissen ausgeht, verstanden werden, noch als ein Ort, der notwendigerweise Wahrheiten beinhaltet. Das Archiv ist ein Ort, der Geschichten erzählt – einer von vielen. (Vgl. Rabinovici 135).

Auch Vereine, Institutionen oder Stiftungen, die Sammlungen betreuen oder verwalten, sollten sich mit Praktiken der Archivarbeit und dem Kodex ethischer Grundsätze vertraut machen. Wenn es an Erfahrung im Umgang mit Archivgut mangelt, das Bewusstsein für archivarische Aufgaben fehlt oder die Trennung zwischen Archivarbeit und Forschung nicht klar ist, fällt es häufig schwer eine nicht interpretative Perspektive einzunehmen. Diese verwaltende und eben nicht interpretative Perspektive aber, ist für die Überlieferungsbildung und die Archivarbeit unerlässlich.

© Anne Bendel, 22. April 2023

* Mit Dokument meine ich hier jegliche Art von Archivgut (Schriftgut, Fotografie, Objekte etc.).
** Neben der Wissenschaft können die Nachlassverwaltung, Urheber:innen, Medien, das Gesetz oder das Dokument selbst als "Gegenmächte" zum Archiv verstanden werden.

Quellen:
Foucault, Michel: Schriften zur Literatur. Frankfurt a. Main, Suhrkamp: 2012 (3. Auflage).
Kellerhals, Andreas: Ethik-Kodex der ArchivarInnen und Ethik-Kodex der HistorikerInnen. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte = Revue suisse d`histoire = Rivista storica svizzera. Bd. 56 (2006). Online http://doi.org/10.5169/seals-1676 [abgerufen am 19.04.2023].
Rabinovici, Doron: Vom Ort der Sammlung. In: Atze, Marcel (Hg. et al.): akten-kundig? Literatur, Zeitgeschichte und Archiv. Wien, Praesens Verlag: 2007/2008, S. 132-136.
VSA-AAS: Recht und Ethik. Online https://vsa-aas.ch/archive-schweiz/rechtliche-grundlagen/ [abgerufen am 22.04.2023].

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